Öffentlicher Abendvortrag
Prof. Dr. Helge Braun MdB
Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes a.D.
Vorsitzender des Haushaltsausschusses
zum Thema
Zukunftsaufgaben und nachhaltige Finanzpolitik – ein Spannungsfeld?
alle Fotos: © Stein-Gesellschaft/Minor
Sebastian Graf von Kanitz, Manuel Liguori, Dr. Rolf Gerlach, Prof. Dr. Helge Braun, Dr. Dietrich H. Hoppenstedt, Ilse Leifheit, Dr. Josef Peter Mertes, Dr. Georg Lunemann, Ingo Nehrbaß (v.l.n.r.)
Politik krankt häufig daran, dass wir Politiker zumeist vollständig vom Tagesgeschäft in Anspruch genommen sind, und uns deshalb keine Zeit bleibt, einmal über den Horizont hinauszudenken. Dabei ist das Nachdenken über das große Ganze gerade in Krisenzeiten, in denen manche Gewissheiten sich verlieren, besonders wichtig. Denn politisches Handeln braucht Leitplanken, damit man sich nicht Jahre später rückblickend fragt: Warum sind wir in die falsche Richtung gelaufen? Und dazu gehört auch die Frage, ob Zukunftsherausforderungen wie die Bildung der jungen Generation, die Sicherung der Sozialsysteme, die Bewältigung der Klimakrise nicht alles Aufgaben sind, die der Einhaltung der Schuldengrenze des Grundgesetzes im Weg stehen bzw. die es rechtfertigen, sich über diese Grenze hinwegzusetzen. Wenn Sie politisch diskutieren, hören Sie diese Frage oft, und als Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestags sogar besonders oft. In dem Moment, in dem man Teil dieses Gremiums wird, das Jahr für Jahr über den Bundeshaushalt und damit über die Verausgabung von – so sieht es der Haushaltsentwurf für 2023 vor – von 445 Mrd. Euro entscheidet – dann gibt es eine Menge Leute, die sagen, davon brauche ich etwas ab. Und das Erstaunliche ist, dass man zunächst denkt, dass 445 Mrd. Euro so viel ist, dass alle Wünsche befriedigt werden können. Am Ende stellt man dann allerdings immer wieder fest, dass viele der Mittel bereits gebunden und wie groß die Ausgaben sind, so dass nur ein Bruchteil von dem, was wünschenswert wäre, auch tatsächlich realisiert werden kann. Nicht erst seit dem Urteil des BVerfG zum Klimaschutzgesetz wird, wenn es um Wünsche an den Bundeshalt geht, dabei gerade mit Blick auf das Thema „Klima“ argumentiert: Sind Investitionen in den Klimaschutz nicht in einer Weise nachhaltig, dass man für diesen Zweck auch jenseits der verfassungsrechtlichen Grenze Schulden aufnehmen sollte?
Klimaschutz und Staatsfinanzen
Prof. Dr. Helge Braun in der voll besetzten Nassauer Stadthalle
Zunächst will ich die Größe des Themas beleuchten. Schon heute ist es nach einer Studie des Bundeswirtschaftsministeriums so, dass wir im Durchschnitt der Jahre 2000 - 2019 jährlich 6,6 Mrd. Euro an Aufwendungen für die Bewältigung von Extremwetterereignissen haben. Das macht deutlich, dass Klimaschäden bereits jetzt eine enorme Belastung darstellen. Und jeder weiß: Das wird in den nächsten Jahren mehr. Natürlich gibt es Menschen, die die Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) oder anderen Experten nicht vertrauen und der Meinung sind, die Gefahren würden übertrieben. Diesen Zweiflern kann ich nur die neuesten Zahlen der Rückversicherer ans Herz legen. Jene Unternehmen berechnen ganz nüchtern die Risiken, für die sie ggf. in Haftung genommen werden, und kommen dabei zu dem Ergebnis, dass ihre Inanspruchnahme in den nächsten Jahren aufgrund klimabedingter Schäden in exponentieller Weise steigen wird. Damit wird sich auch das gesamte Geschäftsmodell dieser Branche grundlegend verändern. Für die Absicherung entsprechender Risiken werden nicht nur deutlich höhere Prämien zu zahlen sein, vielmehr müssen künftige Versiche-rungsnehmer auch mit deutlich höheren Auflagen rechnen.
Auch aus Sicht des Staates stellt sich deshalb die Frage, ob er die in Zukunft zu erwartenden Belastungen noch wird tragen können. Nach den Ereignissen vor einigen Jahren an der Elbe oder jetzt im Ahrtal wurde sehr schnell entschieden, dass der Staat in großem Umfang die Verantwortung übernimmt und in die Haftung geht. Wie aber, wenn sich vergleichbare Katastrophen in Zukunft noch mehr häufen und der Staat damit an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gerät? Dann müssen wir über Alternativen wie etwa eine Versicherungspflicht gegen Elementarschäden diskutierten. Früher stand eine solche Versicherungspflicht nur für Gebäude in den typischerweise von Hochwasser bedrohten Zonen entlang der Flüsse in Rede. Heute dagegen wird diese Frage generell für alle Gebäude zu erörtern sein, weil sich gezeigt hat, dass Starkregenereignisse auch in Gebieten auftreten können, in denen nicht mit ihnen zu rechnen war.
Solche Diskussion sind nicht einfach, müssen aber geführt werden, weil wir uns immer wieder deutlich machen müssen, dass die finanziellen Ressourcen des Staates, so groß sie auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, endlich sind. Hinzu kommt: Die große Summe Geldes, über die wir im Bundeshaushalt verfügen, kommt ja nicht irgendwoher, sondern muss von den Bürgern und Unternehmen über die Steuern aufgebracht werden. Auch dies ist ein Teil der Wahrheit.
Finanzpolitik ist deshalb eine Politik, in der es nur ein sehr enges Steuerungsfenster gibt. Zur Verdeutlichung: Für die Stabilität in Zeiten der Inflation sind die Notenbanken zuständig, also die Europäische Zentralbank (EZB) und die Bundesbank. Die EZB hat ein zentrales Instrument, um einer Inflation entgegenzuwirken, und das ist das Anheben der Zinsen. Davon hat die EZB zuletzt in relativ großen Schritten Gebrauch gemacht. Die Folge einer solchen Zinsanhebung ist eine Verknappung von Geldmitteln für die Wirtschaft; genau um diesen Effekt geht es ja, denn so wird die Inflation begrenzt. Zugleich wird aber auch die Investitionstätigkeit in der Wirtschaft gehemmt. Ein sehr schnelles Anheben der Zinsen ist also einerseits grundsätzlich geeignet, die Inflation zu bekämpfen, führt aber zwangsläufig auch zu einem deutlichen wirtschaftlichen Abschwung und zugleich zu Steuermindereinnahmen. Insoweit handelt es sich um einen sehr sensiblen Kreislauf, in den nur vorsichtig eingegriffen werden sollte.
Klimaschutz nur in den Grenzen des wirtschaftlich Möglichen
Zurück zum Thema des Klimaschutzes. Gerade jungen Menschen, Menschen, die sich z.B. bei „Fridays for Future“ engagieren, verlangen häufig, dass wir uns jetzt verschulden, um entsprechende Maßnahmen zu finanzieren. Diesen halte ich dann immer entgegen, dass dies gerade aus Sicht der jungen Generation keine gute Idee ist. Denn es ist zwar richtig, dass es jetzt unsere Aufgabe ist, dafür zu sorgen, dass die Klimaerwärmung möglichst gering ausfällt. Andererseits steht schon fest, dass es uns vermutlich nicht gelingt, das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Die künftigen Generationen werden sich also – erstens – Kosten gegenübersehen, um den weiteren Temperaturanstieg zu vermeiden. Sie werden – zweitens – Kosten haben, um Anpassungen an den schon vorhandenen Klimawandel zu vollziehen. Drittens schließlich werden sie Geld aufwenden müssen, um die Folgen von Starkregenereignissen etc. zu bewältigen. Wir sollten uns daher gut überlegen, ob wir diese Generationen auch noch mit den Zinsen für von uns getätigte Investitionen belasten wollen. Dass künftige Generationen von solchen Lasten zu bewahren sind, ist gerade eine der zentralen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Klimabeschluss.
Deshalb ist es richtig, den Anpassungspfad in den nächsten Jahren zunächst langsamer zu wählen und in den nachfolgenden Jahren dann schneller. Das ist auch deshalb gerechtfertigt, weil wir aufgrund von absehbaren Innovationen in den nächsten Jahren über Technologien verfügen, mit denen es uns leichter fallen wird, auf CO2 zu verzichten.
Das gilt z. B. für die Wasserstoffwirtschaft. Wasserstoff ist ein Energieträger, der hoch energetisch ist und bei dessen Verbrennung kein CO2 entsteht. Deshalb müssen wir mit Hochdruck daran arbeiten, dass Wasserstoff in zehn Jahren – neben Strom aus erneuerbaren Energien – unser Standardenergieträger wird, auch wenn er im Moment noch kaum verfügbar ist. Dabei müssen wir auch die notwendigen Infrastrukturen in den Blick nehmen. So, wie die Motorisierung des Individualverkehrs nur möglich war, weil sich parallel ein Netz von Tankstellen entwickeln konnte, brauchen wir auch für den Wasserstoff eine flächendeckende Infrastruktur. Deshalb müssen wir unsere heutigen Gasleitungen in den Stand setzen, auch Wasserstoff zu transportieren. Dafür bedarf es erheblicher Investitionen, womit sich die Frage stellt, ob diese von der Wirtschaft gestemmt werden können, oder ob die Kommunen, die Länder oder Bund einspringen müssen.
Diese Frage stellt sich – heute schon deutlicher als beim Wasserstoff – auch mit Blick auf die Elektromobilität. Um bspw. autobahnnah „Elektrotankstellen“ für eine größere Zahl von Fahrzeugen zu schaffen, die in kürzester Zeit aufgetankt werden sollen, sind Leitungskapazitäten erforderlich, die leistungsfähiger sein müssen als sie es für die Versorgung eines ganzen Wohngebiets sein müssten. Solche hochleistungsfähigen Ladeinfrastrukturen sind, so sagt es uns jedenfalls die Elektroindustrie, kein Geschäftsmodell. Mit dem Strom, der auf diese Weise verkauft werden kann, lassen sich die Investitionen nicht refinanzieren. Deshalb gibt es auch an dieser Stelle den Ruf nach dem Staat. Und wenn dann auch noch die Elektroautos gefördert werden sollen, muss man sich schon fragen, wie das alles finanziert werden soll. Deshalb müssen wir uns immer wieder damit auseinandersetzen, welche der wünschenswerten Klimaschutzmaßnahmen wirtschaftlich machbar sind.
Implizite Staatsverschuldung
Das zweite Thema neben dem Klimaschutz, das ich ansprechen möchte, ist die implizite Staatsverschuldung. In den letzten Jahren bis zur Coronakrise hatten wir im Haushalt eine „schwarze Null“. Dann wurde von der verfassungsrechtlichen Möglichkeit Gebrauch gemacht, zur Krisenbewältigung mehr Schulden aufzunehmen, als es die Schuldengrenze eigentlich zulassen würde. Im unmittelbaren Anschluss an die Pandemie sind wir durch den Angriff Putins auf die Ukraine in eine kriegerische Auseinandersetzung geraten – mit allen finanziellen Konsequenzen, die dazu gehören: die unmittelbare Hilfe für die Ukraine, die Stärkung der Bundeswehr, die Abfederung der sozialen und wirtschaftlichen Folgen der von Putin als Kriegsinstrument eingesetzten Energieverknappung. Bei den Geldern, die sich der Staat zur Bewältigung dieser Herausforderungen auf den Kapitalmärkten beschafft, handelt es sich um expli-zite Schulden.
Daneben gibt es aber auch eine implizite Staatsverschuldung, die neben die erwähnten Schulden tritt. Insoweit handelt es sich um finanzielle Zusagen, die der Staat für die Zukunft gemacht hat, die sich aber nicht in einem Haushalt wiederfinden. Dazu gehören z.B. die Lasten für die Beamtenpensionen. Dazu wurden zwar in den letzten Jahren Rücklagen gebildet; die Rücklagenbildung entwickelt sich – um es vorsichtig zu sagen – aber nicht ganz so dynamisch wie die Entwicklung der Pensionslasten. Insoweit handelt es sich um eine große Herausforderung. Vor einem ähnlichen Problem stehen wir bei der gesetzlichen Rentenversicherung. Beide Sicherungssysteme sind so angelegt, dass sich die Höhe der jeweiligen Leistungen am aktuellen Gehaltsniveau orientiert. Das bedeutet für die Leistungsbezieher ein hohes Maß an Inflationsstabilität – ganz anders übrigens als bei der privaten Altersvorsorge, die von einer hohen Inflation, die möglicherweise aktuell noch durch eine Lohn-Preis-Spirale weiter angeheizt werden könnte, bedroht wird. Diese Inflationsstabilität sowie die Tatsache, dass in den nächsten Jahren die geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsleben ausscheiden, sind die wesentlichen Ursache der impliziten Staatsverschuldung, die sich derzeit bereits auf 14,7 Billionen Euro beläuft. Hinzu kommt die explizite Staatsverschuldung in Höhe von 1,5 Billionen Euro – also in etwa drei Bundeshaushalte.
Wachsender Schuldenberg gefährdet künftige Handlungsspielräume
Natürlich stehen wir im Moment in einer ganz besonderen Zeit. Die Lösung der Corona-Krise über Staatsschulden war das erste Mal, dass wir von einer Ausnahmeregelung in Art. 115 GG Gebrauch gemacht haben, die besagt, dass zur Bewältigung außergewöhnlicher Ereignisse, die sich der staatlichen Kontrolle entziehen, Schulden auch jenseits der Schuldengrenze aufgenommen werden können. Dazu bedarf es eines Beschlusses des Bundestags, der mit der sog. Kanzlermehrheit gefasst werden muss. Er muss also von mehr als der Hälfte der Abgeordneten getragen werden. Bei Corona waren wir davon überzeugt, dass die Bedingungen einer solchen Ausnahme vorlagen, weil etwa Lieferketten unterbrochen waren und wir ganzen Branchen verbieten mussten, ihre Leistungen anzubieten. Ziel war es, dass die deutsche Wirtschaft nach der Krise genauso stark dasteht wie vor der Krise. Dem diente auch die Erweiterung des Kurzarbeitergeldes. Diese Maßnahmen zusammengenommen haben zu einer Neuverschuldung von 200 Mrd. Euro geführt.
Jetzt leben wir in einer Phase, in der neben die weiteranhaltende Pandemie die Herausforderungen durch die Ukrainekrise und die damit verbundene Energiekrise treten. Dabei macht mir das Inflationsthema die allergrößten Sorgen. Ich glaube, hier sind nicht viele im Raum, die die Folgen einer Inflation schon einmal selbst erlebt haben. Wenn man allerdings mit Menschen spricht, die sich noch an die Nachkriegszeit erinnern, betonen diese immer, dass sie nie erwartet hätten, derartiges noch einmal erleben zu müssen.
Auch die Bundesbank hat übrigens eine solche Entwicklung wohl nicht erwartet. Mit dieser führen wir als Deutscher Bundestag in regelmäßigen Abständen einen geldpolitischen Dialog. Dazu hat uns das Bundesverfassungsgericht verpflichtet, weil es gesagt, diejenigen, die Fiskalpolitik machen – also das Parlament – und diejenigen, die geldpolitische Entscheidungen treffen – nämlich die Bundesbank –, müssen miteinander reden, um ihre Maßnahmen aufeinander abstimmen zu können. So wäre es z.B. kontraproduktiv, wenn die Notenbanken zur Inflationsbekämpfung die Zinsen steigen lassen würden, um die Geldmenge zu verknappen, der Staat aber gleichzeitig intensiv Schulden machte, und auf diese Weise die Geldmenge wieder erweiterte. Fiskalpolitik und Geldpolitik müssen also Hand in Hand gehen. In den letzten Jahren war dieser Dialog nicht besonders spannend. Es gab kaum Inflation. Außerdem erzielte der Staat so viele Steuern, dass er keine neue Schulden aufnehmen musste – allerdings auch die Chance verpasst hat, alte Schulden abzubauen. Jetzt allerdings erhöht die Bundesbank bzw. die EZB die Zinsen, und zwar genau mit dem Ziel, dass die Nachfrage nach Gütern sinkt. Im Sinne der erwähnten Abstimmungen zwischen Fiskal- und Geldpolitik müsste sich nun auch der Staat zurückhalten und nicht der Versuchung erliegen, die Krise mit Subventionen abwenden zu wollen.
Diese Erkenntnis scheint sich aber noch nicht allgemein durchgesetzt zu haben. Das fing schon damit an, dass 60 Mrd. Euro aus den eigentlich für die Bewältigung der Corona-Folgen vorgesehenen Mitteln, vom letzten Jahr auf das neue Jahr „umgebucht“ wurden. Zusammen mit den in diesem Jahr regulär vorgesehenen 140 Mrd. Euro Schulden, liegen wir bereits bei 200 Mrd. in 2022. Hinzu kommen 100 Mrd. Euro Schulden für das neue Sondervermögen zugunsten der Bundeswehr, das allgemein akzeptiert und durch eine Änderung des Grundgesetzes abgesichert wurde. Damit sind wir schon bei 300 Mrd. Euro, die sich jetzt um weitere 200 Mrd. Euro zur Bewältigung der Energiekrise erhöhen. Ausgehend von einer Gesamtverschuldung in Höhe von 1,5 Billionen Euro, die alle Finanzminister der Bundesrepublik in 75 Jahren angehäuft haben, bedeutet dies, dass ein Drittel dieses Betrages allein in den letzten zehn Monaten aufgebaut worden ist.
Das muss uns ernsthaft zu denken geben. Denn erstens ist sehr deutlich, dass Schuldenaufnahmen in dieser Höhe nicht oft wiederholt werden können. Zweitens muss klar sein, wie sich ein solches Handeln auf das Zinsniveau auswirkt. 2021 haben wir für unsere Schulden (nur) 3 Mrd. Euro aufwenden müssen, weil das Zinsniveau sehr niedrig war. In diesem Jahr sind es bereits 30 Mrd. Euro, was auch bedeutet, dass schon jetzt ein erheblicher Teil des Bundeshalts durch Zinsen gebunden ist. Deshalb ist klar: Dem muss entgegengewirkt werden.
Genau einen solchen Mechanismus sieht unser auch in dieser Hinsicht schlaues Grundgesetz vor. Es bestimmt nämlich, dass es für Schulden, die wir auf der Grundlage von Ausnahmen von der Schuldengrenzen aufnehmen, einen gesonderten Tilgungsplan geben muss, damit sie in angemessener Zeit zurückgezahlt sind. Für die Corona-Schulden bedeutet dies, dass wir vom Jahr 2028 bis zum Jahr 2058 jedes Jahr 12 Mrd. Euro tilgen müssen. Für die neu aufgenommenen 300 Mrd. Euro wird es noch höhere Tilgungsleistungen geben müssen, womit sich die frei verfügbaren Mittel im Bundeshaushalt weiter reduzieren. Steuererhöhungen oder auch eine Erhöhung der Lohnnebenkosten wären in einer solchen Situation auch keine Lösung, weil sie die Wettbewerbsfähigkeit des Landes bedrohten.
Stabilisierung der Sozialsysteme
Deshalb ist auch die Frage der Stabilisierung unserer Sozialsysteme so wichtig. Als ich in den Deutschen Bundestag kam, wurden Bücher unter Titeln wie „Deutschland – Abstieg eines Superstars“ veröffentlicht. Einer der Gründe dafür war, dass die Lohnnebenkosten in Deutschland ein Niveau erreicht hatten, das unsere Wettbewerbsfähigkeit gefährdete. In einer solchen Krise hat Bundeskanzler Gerhard Schröder auch gegen sehr viel Widerstand in seiner eigenen Partei die wichtigen Hartz-IV-Reformen durchgesetzt. Und Franz Müntefering war bereit, das Renteneintrittsalter nach oben zu setzen. Das war alles nicht schön. Aber – und das ist das, was mich an Deutschland immer wieder fasziniert: Wenn wir spüren, dass unser Wohlstand in Gefahr gerät, dann sind wir zu solchen Reformen bereit. Kleiner Seitenhieb auf unsere Nachbarn: Die Franzosen haben die Reform des Rentensystems im Hinblick auf das Renteneintrittsalter bis heute nicht vollzogen. Und wann immer eine Regierung das anpacken will, gibt es massive öffentliche Proteste. Die Folge davon ist, dass das französische Rentensystem immer mehr an Boden verliert, so dass sich Rente und Altersarmut nicht mehr ausschließen.
Die Lehre, die wir aus dieser Zeit gezogen haben, lautet: Die Summe aller Sozialabgaben, die im Grunde eine Besteuerung von Arbeitskraft sind, dürfen nicht über 40 Prozent des Gesamtlohns steigen. In den letzten Jahren ist es gelungen, die Quote immer leicht unter diesen 40 Prozent zu halten. Zum 1.1.2023 steigt der Krankenversicherungsbeitrag, vermutlich um 0,3 Prozent. Dann liegen wir bei 40,1 Prozent. Laut einer Prognos-Studie könnte sich dieser Wert allerdings in naher Zukunft auf 47 Prozent erhöhen. Das darf nicht Realität werden. Wir müssen die Sozialsystem so aufstellen, dass wir in der Lage sind, in der Größenordnung von 40 Prozent zu bleiben. Nur dann werden die Standortbedingungen auch in Zukunft in Deutschland so sein, dass die Unternehmen lieber hier Arbeitsplätze schaffen als anderenorts.
Bildung sichern und stärken
Damit sind wir bei der nächsten großen Herausforderung – der Bildung. Auch mit Blick auf dieses Thema sagen viele, es sei so wichtig, dass es gerechtfertigt sei, dafür Schulden aufzunehmen.
Dazu zunächst eine Zwischenbemerkung. Wenn ich Kollegen aus dem europäischen Ausland, auch aus anderen wohlhabenden Ländern treffe, machen mir diese immer wieder deutlich, wie vergleichsweise gut Deutschland dasteht. Das verdanken wir insbesondere der Tatsache, dass wir mit unserem produzierendem Gewerbe über ein solides wirtschaftliches Rückgrat verfügen, das selbst unter Corona-Bedingungen für erstaunlich stabile staatliche Einnahmen gesorgt hat. Es sind nicht die Dienstleistungen, die uns in den Krisen geholfen haben, sondern das produzierende Gewerbe. Deshalb mag es zwar ein durch Pisa-Studien und ähnliches bestätigtes allgemeines Gefühl geben, unser Bildungssystem müsse besser werden. Richtig ist aber auch, dass wir trotz angeblich schlechter Schulen, trotz unterfinanzierter Hochschulen am Ende die besten Produkte der Welt mit klugen Köpfen produzieren.
Das ist eine beeindruckende Leistung. Jedes Jahr kämpfen wir mit China auf Augenhöhe um die Frage, welches Land der Exportweltmeister ist, wer die interessantesten Produkte anbietet, die andere Länder übrigens oft sehr teuer bezahlen, weil sie nicht in der Lage sind, sie selbst herzustellen. Auf Augenhöhe mit China zu kämpfen ist dabei extrem edel, weil das Land über 13-mal so viele Einwohner verfügt wie wir. Also bringt jedes Unternehmen, jeder Ingenieur im Schnitt 13-mal so viel Leistung, wie seine chinesischen Pendants.
Diesen Vorsprung müssen wir uns erhalten. Deshalb müssen wir als Erstes auf den Faktor Arbeit achten, damit diese hochinnovativen Unternehmen alle in Deutschland bleiben und hier eine gute Produktionsperspektive haben. Dazu brauchen sie kluge Köpfe. Und deshalb muss eine Priorität Bildung und Forschung sein und aus diesem Grunde ist es falsch, wenn angesichts der Energiekrise der Haushalt für Bildung und Forschung nun um 1 Mrd. Euro gekürzt wird. Das ist Geld, das uns in Zukunft einen deutlichen Mehrertrag bringen wird. Wir müssen die Kraft haben, weiterhin in Bildung zu investieren.
Auch die Frage, wie schnell wir die Folgen des Klimawandels bewältigen, hängt so viel mehr von Innovationen als von Verzicht ab. Die letzten Jahre zeigen, dass es gelungen ist, enorme Effektivitätsfortschritte in der Industrie zu erzielen, z.B. im Hinblick auf die Vermeidung von Emissionen. Das hat immer dazu geführt, dass die Nachfrage nach deutschen Produkten weltweit größer geworden ist. Wenn wir auf diesem Pfad voranschreiten wollen, wenn wir wollen, dass die Welt unserem Kurs hin zu einer CO2 neutralen Wirtschaft folgt, dann braucht die Welt auch die Produktionsmittel, die ihr das erlauben. Wenn sich dieses Ziel nur mit unwirtschaftlichen Mitteln erreichen lässt, wird dies die Welt nicht mitmachen. Deshalb müssen wir an klimaneutralen Technologien, vor allem im Hinblick auf den Einsatz von Wasserstoff, und an weiteren Verbesserungen bei den erneuerbaren Energien forschen.
Wir haben in Deutschland eine große Stahlindustrie. Diese braucht Koks, sie braucht den Kohlenstoff. Man ist allerdings bereit, auf Wasserstoff umzusteigen. Dafür ist aber ein enormer Technologiesprung erforderlich. Entsprechende Anlagen kann man heute noch nicht „von der Stange“ kaufen. Aber die Frage ist doch: Wollen wir den für die deutsche Wirtschaft insgesamt so wichtigen Stahlsektor in andere Hände geben oder wollen wir sicherstellen, dass Stahlproduktion und Klimaschutz Hand in Hand gehen, und zwar zu wirtschaftlichen Bedingungen. Das bedingt zwar enorme Forschungsinvestitionen, aber genau diese Investitionen sind erforderlich, um unseren Wohlstand zu erhalten. Und deshalb müssen wir uns hier engagieren.
Zahlreiche interessierte Fragen und Kommentare zum Vortrag aus dem Auditorium
Krisen als Chancen
Auch die Nassauer Bürger haben sich rege an der Diskussion beteiligt
Ich glaube, dass die Frage nachhaltiger Staatsfinanzen essenziell ist. Als ich angefangen habe, in der Bundesregierung zu arbeiten, kam die griechische Staatsschuldenkrise auf uns zu. Vorher habe ich in vielen Talkshows gehört, dass Staaten nicht bankrottgehen können. Bei den Wetten, die wir in dieser Krise gegen Griechenland, am Ende auch gegen den Euro gesehen haben, wissen wir: auch Staaten können bankrottgehen. Dass wir durch diese Krise gekommen sind, haben wir vor allem der deutschen Wirtschafts- und Finanzkraft zu verdanken. Damals hat Angela Merkel gesagt, sie arbeite daran, dass Deutschland besser aus der Krise herauskomme, wie es hineingegangen ist. Das fand ich sehr stark und habe sie auch gefragt, ob man sich nicht besser etwas vorsichtiger geäußert hätte. Aber sie war davon überzeugt, dass es geht. Und tatsächlich liegt in jeder Krise die Chance, dass man in der Gesellschaft die Bereitschaft erzeugt, die Fehler, die in der Vergangenheit gemacht wurden, zu korrigieren, auch wenn es an der einen oder anderen Stelle schmerzhaft ist. Und wenn man sich ansieht, dass die Banken in Europa heute – nach der Krise – mit ganz anderen Sicherungssystemen ausgestattet sind, wenn man sich ansieht, wie viele Länder in Europa auch ihre Sozialsysteme langsam verbessert haben, dann würde ich mich heute zwar nicht darauf versteifen zu sagen, dass wir schon am Ende dieses Prozesses sind. Ganz im Gegenteil. Vielmehr stellt sich die Frage, ob wir jetzt die Kraft haben, finanzielle Solidität und die Bewältigung der Herausforderungen in Einklang zu bringen.
Damit stehen wir jetzt konkret vor einer ganz unangenehmen Wahrheit. Wir dürfen weder in Deutschland noch in einem anderen Land Europas mit staatlichen Geldern die Inflation noch weiter anheizen. Wir hatten eine überhitzte Baukonjunktur mit extrem hohen Preisen, deshalb wäre es falsch, jetzt mit staatlichen Mitteln für noch mehr Bauaktivität zu sorgen. Es ist zwar richtig, dass wir die Menschen bei ihrem Grundverbrauch an Gas finanziell unterstützen. Was wir aber nicht können, ist jeden Liter Treibstoff an der Tankstelle zu verbilligen. Das würde nicht funktionieren, was der Tankrabatt allen vor Augen geführt hat. Wir erleben eine Angebotskrise. Wenn das Angebot an Benzin zu klein ist und man den Menschen mehr Geld gibt, Benzin zu kaufen, muss das Ergebnis sein, dass der Preis ins Unermessliche steigt. Deshalb muss bei allen Unterstützungsmaßnahmen der Anreiz, Energie zu sparen, erhalten bleiben, weil wir ansonsten in eine Inflationsspirale geraten.
Klar ist im Übrigen auch: Selbst wenn wir jetzt 200 Mrd. Euro bereitstellen, können wir damit nur einen kleinen Teil der Mehrbelastungen abdecken. Und deshalb besteht zwischen dem „you‘ll never walk alone“ des Kanzlers und der Aussage, dass wir gestärkt aus der Krise herausgehen werden von Angela Merkel, aus meiner Sicht ein ganz elementarer Unterschied. Wir müssen damit rechnen, dass die aktuelle Krise in der Tat etliches verändert hat und auch von uns Anpassungen verlangt.
Ich blicke aber mit Hoffnung auf die Zeit danach. Dazu müssen wir es schaffen, den Frieden in Europa zu stabilisieren und deutlich machen, dass der Bruch des Völkerrechts niemals dazu führt, dass man der Gewinner ist. Wir müssen es außerdem schaffen, dass wir durch die Reform unserer Sozialsysteme, durch eine solide Finanzpolitik und durch einen klaren, an unseren Arbeits- und Produktionskapazitäten orientierten Kurs unser Land unbürokratischer machen und damit ein ganzes Stück dynamischer aufstellen. Wenn das gelingt, dann können wir am Ende sagen, dass wir auch aus dieser Krise gestärkt herausgekommen sind und dann werden wir auch alle überzeugen können, diesen Weg mitzugehen.
Denn was wir nicht aus dem Blick verlieren sollten: Der Grund, warum sich die Ukrainer heute im Krieg mit Russland und schon seinerzeit auf dem Maidan nach Westen orientiert haben, ist die Sehnsucht nach einer Chance auf individuellen Wohlstand, auf Freiheit, Bildungsgerechtigkeit, Pressefreiheit und die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das alles haben wir schon. Und das wollen wir nachhaltig verteidigen!
Ein Vortrag, der ein komplexes Thema transparent gemacht hat und viel Anklang in Nassau fand
Prof. Dr. Helge Braun – Vita
Prof. Dr. Helge Braun, Copyright: Tobias Koch
Prof. Dr. Helge Braun war von 2018 bis 2021 Chef des Bundeskanzleramtes und leitete damit die zentrale Koordinierungsstelle der Regierungspolitik. Als Bundesminister für besondere Aufgaben stand er über die Fachabteilungen des Hauses in ständigem Kontakt mit den Ministerien. Hatten Ressorts zu einem Vorhaben unterschiedliche Auffassungen, so half er einen Kompromiss zu finden. Zu seinen Aufgaben gehörte es auch, politische Vorhaben der Bundesregierung langfristig zu planen.
Aktuell wirkt Prof. Dr. Helge Braun als Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages an der parlamentarischen Kontrolle der neuen Regierung mit. Der Vorsitz des Haushaltsausschusses steht traditionell der größten Oppositionsfraktion zu.
Als langjähriger Bundestagsabgeordneter in der CDU-Fraktion vertritt er den Wahlkreis Gießen/Vogelsberg und setzt sich im Deutschen Bundestag für die Belange der Bügerinnen und Bürger der Städte und Gemeinden seines Wahlkreises ein.
Helge Braun ist promovierter Arzt und seit 2015 Honorarprofessor an der Universität Frankfurt am Main.
Programm
18:00 Uhr | Begrüßung
Manuel Liguori | MdL, Bürgermeister der Stadt Nassau
Dr. Josef Peter Mertes | Stellvertretender Vorsitzender der G. u. I. Leifheit-Stiftung
Dr. Dietrich H. Hoppenstedt | Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.
18:15 Uhr | Vortrag mit anschließender Diskussion
Prof. Dr. Helge Braun | MdB
Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes a.D.
Vorsitzender des Haushaltsausschusses
19.30 Uhr | Ausklang mit Imbiss
Unser Dank gilt der G. u. I. Leifheit-Stiftung, die die Nassauer Dialoge großzügig unterstützt!
Die Zusammenfassung des Vortrags finden Sie hier zum Download:
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