Öffentlicher Abendvortrag anlässlich der Mitgliederversammlung 2022
Dr. Thorsten Smidt
Ausstellungsdirektor im Bonner Haus der Geschichte
zum Thema
Zeitgeschichte ausstellen – das Bonner Haus der Geschichte auf dem Weg in die Zukunft
Copyright alle Fotos und Abbildungen (soweit nicht anders gekennzeichnet): Stiftung Haus der Geschichte
Die Mitgliederversammlung 2022 der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft fand am 8.11.2022 auf Schloss Cappenberg in Selm-Cappenberg statt. Freiherr vom Stein hat das frühere Kloster Cappenberg nach seiner Umwandlung zum Schloss im Jahre 1816 erworben und bis zu seinem Tode 1831 als Altersruhesitz genutzt. Heute beherbergt das Anwesen u. a. Ausstellungsräume des Museums für Kunst und Kultur des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe, die mit ihrer Dauerausstellung zum Lebens des Freiherrn vom Stein sowie einer aktuellen Sonderausstellung zu Kaiser Barbarossa im Vorfeld der Mitgliederversammlung besichtigt werden konnten.
Präsidium sowie zahlreiche Mitglieder und Gäste fanden sich anlässlich des Vortrags von Dr. Thorsten Smidt im Theater-Saal von Schloss Cappenberg ein
Der Mitgliederversammlung schloss sich eine auch der interessierten Öffentlichkeit zugängliche Veranstaltung an. Nach Grußworten des Hausherrn auf Schloss Cappenberg und Mitglied des Präsidiums der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Sebastian Graf von Kanitz, sowie des Präsidenten und des Vizepräsidenten der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, Dr. Dietrich H. Hoppenstedt und Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, sprach Dr. Thorsten Smidt, Ausstellungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zum Thema der Neustrukturierung der Präsentation der Sammlung des Hauses der Geschichte in Bonn. Dieses ursprünglich als Bühne für die seinerzeit erst 40-jährige Geschichte der Bundesrepublik konzipierte Museum steht dabei vor der Herausforderung, eine deutlich längere Zeitspanne und auch eine durch die Wiedervereinigung und die Zusammenführung zweier politischer Systeme in Deutschland deutlich gewachsene Komplexität angemessen abbilden zu müssen.
Die nachfolgende Dokumentation der Beiträge hat Dr. Klaus Ritgen (Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft) erstellt.
Begrüßung durch den Gastgeber
Sebastian Graf von Kanitz
Mitglied des Präsidiums der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir freuen uns über den Besuch der Stein-Gesellschaft in Cappenberg. Es ist 40 Jahre her, dass die Gesellschaft zuletzt hier getagt hat. Das war am 27.10.1982 anlässlich einer Kuratoriumssitzung.
Dabei ist dies hier ein guter Ort für Veranstaltungen der Gesellschaft. In Cappenberg hat die Gesellschaft ihren juristischen Sitz. 1948 und 1949 fanden hier vorbereitende Gespräche der zwanzig Gründungsmitglieder statt, zu denen auch mein Großvater gehört, der hier nach dem Krieg gemeinsam mit Prof. Erich Botzenhart den Stein-Nachlass ordnete. Fest zu Cappenberg gehörte auch das erste und bisher bedeutendste wissenschaftlich Projekt der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, die in den Jahren 1957 bis 1974 erschienene, zehn Bände umfassende Edition der Schriften des Freiherrn durch Prof. Botzenhart. Von meinem Großvater ist in diesem Zusammenhang die Aussage überliefert, dass die Stein-Gesellschaft im Hause Steins eine Heimat besitzen sollte. Dem stimme auch ich weiter gerne zu.
Cappenberg ist auch deshalb ein guter Ort für eine Veranstaltung der Stein-Gesellschaft, weil in diesem Jahr Kirche und Museum in neuem Glanz erstrahlen. Die Prämonstratenser feiern ihr 900-jähriges Jubiläum seit der Klostergründung in einer durch das Land Nordrhein-Westfalen frisch renovierten Stiftskirche aus dem Jahre 1122. Genauso freuen wir uns über die Wiederöffnung des Museums in einem technisch für die nächste Generation neu ausgerüstetem Gebäude mit ihren Ausstellungen: der durch das Landesmuseum neu konzipierte Dauerausstellung sowie die Ausstellung zu Kaiser Friedrich Barbarossa.
Das Wirken Steins als prägende politische Person und Reformer ist Ihnen allen bewusst. Stein hat sich sehr für Westfalen eingesetzt; er war hier integriert. Er hat den ersten Landtag in Westfalen mit ins Leben gerufen und hat hier auf Schloss Cappenberg, das er 1816 im Austausch gegen ein anderes Gut in Posen vom preußischen Staat erwarb, gelebt. Schloss Cappenberg war sein Alterssitz, seine Wahlheimat. Er hatte einen ausgeprägten Sinn für Geschichte und Kunst. Er sorgte dafür, dass der Stiftsnachlass erhalten blieb, und hat auch die Stiftskirche vor dem Abriss bewahrt, die dann zur Pfarrkirche umgewidmet wurde. Als Protestant sorgte er auf diese Weise dafür, dass die Katholiken hier eine eigene Gemeinde erhielten. Die Steinsche Totentafel im Seitenschiff der Kirche erinnert noch heute an seine großen Verdienste.
Das Stein-Archiv mit seinem Nachlass ist weiterhin zugänglich und steht der Forschung dank der Unterstützung der Stein-Gesellschaft auch in digitaler Form zur Verfügung. Insofern ist Schloss Cappenberg nicht nur ein symbolischer Ort an dem Stein gewohnt hat und seine Nachfahren heute leben. Dazu trägt auch die neu aufgelegte Dauerausstellung bei, die Stein auch in seiner Kulturtätigkeit im öffentlichen Bewusstsein verankert. Der sog. Stein-Saal geht wie kein anderer Raum des Museums auf den Freiherrn vom Stein zurück. Ein Saal, erbaut im Biedermeier-Stil, den er mit Rundungen, Nischen und einem italienischen Fries aus dem 18. Jahrhundert verzierte, um ihn als Festsaal zu nutzen.
Damit erinnerte er auch an die Werte, die für ihn wichtig waren. Durch die von ihm persönlich in Auftrag gegebenen Historiengemälde als Bestandteil seines patriotischen Kunstprogramms, wie manche sagen würden, mahnt Stein u. a. zur nationalen Einheit und möchte den Blick des Betrachters, wie er sagte, auf das Edle und dauerhaft Schöne der Kunstwerke lenken.
Als Nachfahren Steins in der 6. Generation und als Familie fühlen wir uns verantwortlich, das geistige und kulturelle Erbe Steins treuhänderisch zu bewahren und aktiv weiterzuführen. „Vertrauen auf Gott, Mut, Einigkeit, Beharrlichkeit, die immer zu einem wichtigen, großen Resultat führen“, schrieb Stein an den Erzbischof von Spiegel im März 1818. Diese Leitwerte setzte Stein über sein Reformwerk und hält sie in dem zur Erinnerung an die Befreiungszeit erbauten Nassauischen Turm für die nachfolgenden Generationen fest. Insbesondere auch in den heutigen Zeiten eine gute Orientierung.
Persönlich hoffe ich, dass noch viele Jahre der Verbundenheit zur Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft und damit auch zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe nach Münster und gerne auch darüber hinaus vor uns liegen, die die Gelegenheit geben, die geschichtlich gewordene Tradition immer wieder neu zu beleben und zu verwirklichen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen nun einen guten und anregenden Aufenthalt.
Grußwort
Dr. Dietrich H. Hoppenstedt
Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist guter Brauch, dass anlässlich der Mitgliederversammlungen der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft ein öffentlicher Abendvortrag stattfindet. Zu diesem Vortrag darf ich Sie alle sehr herzlich begrüßen.
Die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 1952 gegründet, begeht in diesem Jahr ihr siebzigjähriges Jubiläum. Und so ist es kein Zufall, dass wir uns heute auf Schloss Cappenberg treffen, dem Alterssitz des Freiherrn vom Stein. Vorbereitende Gespräche zur Gründung der Gesellschaft fanden – Graf Kanitz hatte es soeben schon erwähnt – 1948/49 hier auf Schloss Cappenberg statt, das seinerzeit Graf Albrecht von Kanitz, einem Ur-Urenkel des Freiherrn, gehörte. Ab 1950 erweiterte sich der Kreis der Gründerväter auch auf jüngere Vertreter aus jenen Berufen und Fachrichtungen, in denen sich die Steinschen Reformen besonders ausgewirkt haben, d.h. aus der kommunalen und staatlichen Verwaltung, dem Bergbau, der Landwirtschaft und der Wissenschaft.
Bis heute begleitet die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in ihren grundsätzlichen Fragestellungen und Herausforderungen. Dabei ist und bleibt Kerngedanke der Föderalismus und die kommunale Selbstverwaltung, aber auch die Selbstverwaltung schlechthin als wirksames Instrument der Teilhabe der Bürger an sie unmittelbar betreffenden Angelegenheiten, wie es Werner Weber einmal formuliert hat.
Die Eigenverantwortung des mündigen Bürgers gegenüber dem süßen Gift des allzuständigen Staates in einer zunehmend komplexer werdenden Welt ist sicher nicht einfach. Vor allem auch, weil durch die unbestreitbar richtige und wichtige Einbindung Deutschlands in die Europäische Union nicht nur eine weitere Ebene hinzugekommen ist, sondern weil hier auch unterschiedliche, zum Teil historisch begründete Verständnisse über die Ausgestaltung von Staatswesen und ihre Verfassungen aufeinanderprallen.
Es trifft sich in diesem Zusammenhang gut, dass in diesen Wochen im wiedereröffneten Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe hier auf Schloss Cappenberg eine Ausstellung zu einer wichtigen Epoche der deutschen Geschichte stattfindet. Und es trifft sich insoweit ebenso gut, dass Dr. Thorsten Smidt über den Weg des Bonner Hauses der Geschichte in die Zukunft sprechen und dabei eine Zeitspanne der nationalen Geschichte in den Blick nehmen wird, die auch die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft in grundsätzlichen Fragestellungen begleitet hat.
Und so darf ich diese Gelegenheit nutzen, um all den Frauen und Männern zu danken, die sich in unserer Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg engagiert und als jeweilige Zeitgenossen den Weg der Bundesrepublik Deutschland kritisch begleitet haben. Ferner darf ich Ihnen, Graf Kanitz, Dank sagen für Ihre wunderbare Gastfreundschaft und die Möglichkeit, heute hier tagen zu können. Als Mitglied unseres Präsidiums sind Sie so etwas wie das Bindeglied zwischen Tradition und Moderne.
Ich darf die Gelegenheit auch nutzen, um den jahrelangen Unterstützern unserer ehrenamtlichen Arbeit zu danken: Dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe, heute vertreten durch Landesdirektor Dr. Georg Lunemann, der zugleich Geschäftsführendes Präsidialmitglied der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft ist; dem Deutschen Sparkassen- und Giroverband (DSGV) und der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), die uns bei der Durchführung unserer Hauptstadtgespräche unterstützen; der G. und I. Leifheit-Stiftung für die gemeinsame Durchführung des Nassauer Dialogs für junge Nachwuchsführungskräfte. Der Alfred Toepfer Stiftung F.V.S. für die Begleitung unserer wissenschaftlich ausgerichteten Nassauer Gespräche.
Mein Dank gilt außerdem dem Deutschen Landkreistag – Herrn Prof. Dr. Hans-Günter Henneke und Herrn Dr. Klaus Ritgen – für jahrzehntelange thematische Begleitung und Unterstützung. Herr Prof. Dr. Henneke – den wir heute mit Wirkung zum 1.4.2023 zum Präsidenten unserer Gesellschaft gewählt haben – wird nunmehr auch die einführenden Worte zum nachfolgenden Vortrag übernehmen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Einleitende Worte
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke
Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages
Vizepräsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, designierter neuer Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft
Meine Damen und Herren,
mein erster Dank gilt Herrn Dr. Hoppenstedt, der seit 2008 kraftvoll und mit der ihm eigenen Souveränität das Amt des Präsidenten der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft geführt hat. In dieser Zeit ist es insbesondere gelungen, mit den bereits erwähnten Hauptstadtgesprächen für die Gesellschaft auch in Berlin ein festes Standbein zu schaffen. Dafür gebührt ihm hohe Anerkennung.
Nun lassen Sie mich nach vorne und auf den heutigen Abend schauen. Graf Kanitz hat ein Stichwort geliefert, auf das ich nicht vorbereitet war, das ich aber aufgreifen möchte. Er hat gesagt: Im Oktober 1982 war in Cappenberg die letzte Veranstaltung. Ebenfalls im Oktober 1982, genauer: am 1.10.1982, wurde Helmut Kohl Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Am 4.10.1982 wurde das Kabinett gebildet und in der Regierungserklärung von Helmut Kohl wurde die Gründung eines Hauses der Geschichte bereits angekündigt. Es wurde beschlossen, dieses Haus der Geschichte in Bonn zu errichten, weil 1982 noch niemand damit gerechnet hat, dass es 1989 zum Mauerfall und dann 1990 zur Wiedervereinigung kommen wird.
Ich habe mich immer außerordentlich für dieses Projekt interessiert und es während meiner ersten Jahre beim Deutschen Landkreistag bedauert, den Gremien des Hauses der Geschichte nicht anzugehören. Bei der Eröffnungsveranstaltung 1994 war ich aber dabei und habe seither die Arbeit des Hauses intensiv begleitet, seit 20 Jahren nun auch als Gremienmitglied. Und wenn ich mir einen Berufswunsch hätte erfüllen wollen, dann wäre ich das geworden, was Herr Dr. Smidt heute ist, nämlich Ausstellungsdirektor des Hauses der Geschichte. Dieser hat die einmalige Chance, gleichsam auf „grüner Wiese“ neu anfangen zu können. Warum?
Helmut Kohl war Gründungsvater des Hauses der Geschichte. Dann wurde dieses Haus gebaut. Sie haben, jedenfalls wenn Sie nicht wesentlich jünger sind als ich, alle in Erinnerung, wie das Kellergeschoss entstand, wie dann der ursprünglich für Göring entworfene und später von Bundeskanzlern genutzte Salonwagen eingebracht wurde, bevor das Gebäude fertiggestellt werden konnte. 1994 wurde das Haus mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit eröffnet. Damit stand der umbaute Raum fest. Und was wurde dokumentiert? Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis in die damals aktuelle Zeit, also eine Spanne von gut 45 Jahren. Eine wunderbare Ausstellung.
Aber schon vor Eröffnung war aus Sicht eines Ausstellungsmachers etwas Katastrophales passiert: Die Mauer fiel. Deutschland wurde größer. Es musste etwas anderes integriert werden. Und der Traum Stalins ging, wenn er es noch erlebt hätte, in Erfüllung, nämlich linksrheinisch seinen Platz zu finden, und zwar im Haus der Geschichte. Das war für manche, auch für mich, ein Schock. Die Dauerausstellung musste neu konzipiert werden. Es mussten zwei Staaten, zwei Geschichten, die parallel verliefen, vereinigt werden.
Nun hat man sich entschlossen, die Dauerausstellung grundsätzlich neu aufzubauen. Das Problem ist, dass das Gebäude nicht gewachsen ist. Deshalb steht man vor der Herausforderung, in einem 1994 eröffneten und auf die seinerzeitige Geschichte der Bundesrepublik – mit europäischer Bindung, aber ohne Blick nach Osten – ausgerichteten Gebäude etwas Neues zu bauen, was auf der einen Seite auch in die Geschichte der DDR zurückgreift und gleichzeitig nach vorne weist. In demselben Raum, in dem zuvor nur die Geschichte Westdeutschlands präsentiert wurde, gilt es also nun, die west- und ostdeutsche sowie die gesamtdeutsche Geschichte seit 1945 in den Blick zu nehmen.
Vor diesem Hintergrund wird das Haus der Geschichte in Kürze ausgeräumt und deshalb bietet sich für Dr. Smidt die einmalige Chance und große Herausforderung, noch einmal von vorne – auf der „grünen Wiese“ also – anfangen zu können.
Herr Dr. Smidt ist seit 2016 Ausstellungsdirektor des Hauses der Geschichte und hat vorher anderenorts wunderbare Ausstellungen kuratiert, von denen ich nur zwei nennen will. Zum einen die Ausstellung „König Lustik“ in Kassel, in der es um Jérôme Bonaparte ging, der von seinem Bruder Napoleon Bonaparte als König von Westphalen eingesetzt worden war. Und später haben Sie – das wird Herrn Hoppenstedt freuen – die Ausstellung „Als die Royals aus Hannover kamen“ betreut. 2021 sind Sie außerdem unter die Romanautoren gegangen und haben unter dem Titel „Vier Nullen zu viel“ ein Buch publiziert, das erhebliche öffentliche Aufmerksamkeit erzielt hat.
Jetzt aber steht nicht nur die große Aufgabe vor Ihnen, das künftig leere Gebäude mit Inhalten aus siebzig Jahren aus Ost und West und mit Perspektive nach Europa zu füllen, sondern auch die noch größere Herausforderung, uns durch Ihren Vortrag davon zu überzeugen, dass Sie der richtige Mann dafür sind. Vielen Dank!
Zeitgeschichte ausstellen – Das Bonner Haus der Geschichte auf dem Weg in die Zukunft
Dr. Thorsten Smidt
Sehr interessanter Vortrag von Dr. Thorsten Smidt, Ausstellungsdirektor der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Vielen Dank, lieber Herr Prof. Henneke, für diese wirklich sehr freundliche Einführung und den Hinweis auf meine historische Vorbelastung, was das Königreich Westphalen angeht, dessen Herrscher in gewisser Weise ja auch ein Gegenspieler des Freiherrn vom Stein war. Das aber ist heute Abend nicht Thema.
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es ist mir eine Ehre, hier vor einem sehr geschichtsinteressierten und auch sehr geschichtsbewussten Publikum sprechen zu dürfen. Ich hoffe, dass Sie mir bei meinem Blick auf die Zeitgeschichte, aber auch unserem Weg in die Zukunft folgen werden, den wir im Haus der Geschichte beschreiten wollen.
Zunächst aber einige Worte zur Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ und ihrer Entwicklung.
Die Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“
Das Haus der Geschichte, wurde – wie Herr Henneke bereits erwähnt hat – 1994 eröffnet. Es ist der wesentliche Standort der Stiftung „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“. Meines Erachtens war es richtig, das Haus ungeachtet des zwischenzeitlichen Mauerfalls und der Wiedervereinigung an diesem Standort in Bonn gegenüber dem Bundesviertel zu errichten. Dort finden sich weitere historische Orte, die, wie etwa der Kanzlerbungalow oder der Bundesrat, zum größten Teil von uns betreut werden.
1999 wurde – damals schon unter der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder, der auch an der Eröffnungsveranstaltung teilgenommen hat – der Bestand der Stiftung um das zeitgeschichtliche Forum in Leipzig ergänzt. Es folgte 2011 – Angela Merkel war Kanzlerin – der Tränenpalast in Berlin und zwei Jahre später ebenfalls in Berlin das Museum in der Kulturbrauerei, wo wir den Alltag in der DDR ausstellen.
Wir sind mit unseren Standorten eines der besucherstärksten Museen in Deutschland. Allein die Dauerausstellung in Bonn, die ja immer noch geöffnet und auch immer noch eine Reise wert ist, hat – so jedenfalls die Zahlen vor Corona – knapp eine halbe Millionen Besucher jährlich.
Der Vollständigkeit halber noch der Hinweis, dass das Deutsche Historische Museum eine Schwesterstiftung ist, aber nicht zu uns gehört. Wir konzentrieren uns gemäß unserem gesetzlichen Auftrag auf die Zeit ab 1945, während die Berliner Kollegen einen viel weiteren Bogen spannen und im Übrigen auch gerade eine neue Dauerausstellung vorbereiten.
An der Spitze der Stiftung steht ihr Präsident, Herr Prof. Dr. Biermann, sowie das drittelparitätisch aus Vertreter des Deutschen Bundestags, der Bundesregierung und der Länder zusammengesetzte Kuratorium. Das Kuratorium beschließt die Grundzüge des Programms, den Haushaltsplan und trifft wichtige Personalentscheidungen. Wir sind aber nicht weisungsgebunden. Wir waren also nicht das Museum von Helmut Kohl und sind heute auch nicht das Museum von Olaf Scholz.
Beraten wird die Leitung der Stiftung durch einen Wissenschaftlichen Beirat sowie einem Arbeitskreis gesellschaftlicher Gruppen, dem auch Prof. Dr. Henneke angehört. Beide Gremien tagen zweimal jährlich. Die – mitunter auch kontroversen Diskussion – in diesen Gremien dienen uns dazu, unser Programm zu schärfen und auf die Probe zu stellen. Denn wir wollen auf gar keinen Fall tendenziös sein. Wir wollen uns immer multiperspektivisch aufstellen und auch in politischer Hinsicht – und das ist ja gerade bei Zeitgeschichte ein ganz wichtiger Punkt – versuchen, ein möglichst breites Spektrum abzubilden.
Was wir (bisher) machen
Vor dem Blick in die Zukunft noch einige Sätze dazu, woher wir kommen und was wir aktuell noch machen. Denn so sehr wir auch ein Stück weit Zeitgeschichte im Museum neu erfinden wollen, dürfen wir doch nicht vergessen, woher wir kommen, und dürfen natürlich auch unser Stammpublikum, zu dem Sie vielleicht ja gehören, nicht verprellen. Insofern ist es wichtig, sich noch einmal vor Augen zu halten, was das Haus der Geschichte mit seinem Flaggschiff – der Dauerausstellung in Bonn – ausmacht.
Deshalb hier noch einmal einen Blick auf den Eingangsbereich der Ausstellung.
Szenografischer Ansatz im Haus der Geschichte in den 90er Jahren
Diese war in den 1990er Jahren im Hinblick auf ihre Ausstellungssprache schulbildend. Sie sehen hier keine Vitrinen-Landschaft, sondern eine Szenografie, die Sie unmittelbar in Großbilder eintauchen lässt.
Der Claim bzw. das Motto, das damals kreiert wurde – „Geschichte erleben“ – ist so zu verstehen, dass Sie als Besucher in Ihre eigene Geschichte hereintreten. Der amerikanische Jeep, den Sie hier sehen, steht deshalb auch nicht auf einem Sockel, sondern auf demselben Niveau wie die Besucher. Das gilt auch für das ausgeschlagene Hakenkreuz als Vermächtnis und als Schatten der Vergangenheit, der auch noch weit in die Nachkriegszeit hineinreicht. Diese Trümmerlandschaft soll darstellen, was die Ausgangslage ausmachte, die dann vier Jahre später in die Gründung der Bundesrepublik, aber natürlich auch der DDR mündete.
Wer von Ihnen vor Ort war, kennt vermutlich dieses Bundestagsgestühl.
Original Gestühl des ersten Bundestages.
Es handelt sich um dasjenige, das bis 1986 – also bis zum Umzug ins Wasserwerk – in Benutzung war. Dann haben sich bekanntlich die Ereignisse überschlagen. Im Wasserwerk wurden die Abgeordneten vom Mauerfall überrascht und hier fand auch die Abstimmung zum Wechsel des Regierungssitzes statt. Jedenfalls handelt sich um das originale Gestühl, das von unseren Besuchern benutzt werden kann.
Diese Möglichkeit, unmittelbar in der Geschichte Platz nehmen zu können, dieses Ensemble, das nach wie vor zu den Lieblingsräumen unserer Ausstellung zählt, ist ikonisch für das, was unser Museum ausmacht und zeigt, wie wir das erwähnte Motto tatsächlich mit Leben erfüllen.
Das gleiche gilt auch für andere Ausstellungsstücke, etwa für einen aufgeschnittenen „Rosinenbomber“, der die Berliner Blockade thematisieren soll.
Aufgeschnittener "Rosinenbomber", ein Zeitzeuge der Berliner Blockade
Eine solche Treppe würde es heute aus Gründen der Barrierefreiheit selbstverständlich nicht mehr geben. Auch die Verschränkung von Bildebenen – Karikatur bzw. Karte oder Text auf Fotografien – würden wir heute ebenfalls nicht mehr so realisieren.
Ich will Ihnen hier nicht die Geschichte der Bundesrepublik erzählen, Ihnen aber doch noch zwei weitere Bilder zeigen, um darauf aufbauend erläutern zu können, wie wir in die Zukunft schreiten wollen. Hier daher zunächst das Bild der Maueröffnung am 9.11.1989.
Die geöffnete Mauer: Trabbis können nun in den Westen fahren
Die im Hintergrund zu sehenden, an der Bornholmer Straße entstandenen Videoaufnahmen gehören zwischenzeitlich auch zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Hier wurde nach der „vermurksten“ Pressekonferenz von Günter Schabowski die Entscheidung getroffen wurde, den Schlagbaum tatsächlich zu öffnen und dem Druck der Massen nachzugeben.
Und wenn Sie in der Dauerausstellung dann einige Meter weitergehen, sind Sie eigentlich schon am Ende der Fläche angekommen – es sind 4.000 m2 -, die wir auch nicht durch einen Anbau oder andere Maßnahmen erweitern werden. Das Hauptproblem ist deshalb, dass die Zeit fortschreitet, wir aber bei unseren Überarbeitungen, die wir immer vorgenommen haben, die grundsätzliche Struktur, die Zäsuren, die wir gesetzt haben, nicht ändern konnten. Das hat dazu geführt, dass wir auf den letzten Metern in einem „Schweinsgalopp“, wenn ich das so salopp ausdrücken darf, durch die Geschichte rasen müssen.
2001: Verschmolzene Stahlträger aus dem World Trade Center leiten weiter zu einem Boot, das die Flüchtlingskrise im Jahr 2015 thematisch aufgreift
Deshalb sehen Sie auf diesem Bild rechts einen der Stahlträger aus dem World Trade Center – wir sind also im Jahr 2001 – und dahinter ein Flüchtlingsboot aus dem Jahr 2015. Die geöffneten Glastüren sind bereits der Ausgang der Dauerausstellung.
Diese Überarbeitung des Endes der Ausstellung haben wir 2017 vorgenommen. Deshalb war die Flüchtlingskrise das letzte große und beherrschende Thema, welches wir dort noch angesprochen haben. Daran sehen Sie auch, dass wir weder Corona noch die Flutkatastrophe in der Ausstellung abbilden, von der Ukraine-Krise ganz abgesehen. Aber selbst so etwas wie „Fridays for Future“ ist noch nicht berücksichtigt.
Was wir vorhaben
Vor diesem Hintergrund haben wir uns Großes vorgenommen. Wir wollen – was Herr Henneke schon angedeutet hat – alles ausräumen. Das ist nicht trivial und es wird erst 2024 so weit sein, dass sämtliche Objekte aus der Ausstellung entfernt sind. Im Moment laufen dafür noch die Planungen und Vorbereitungen. Anschließend werden wir etwas sehen, was selbst ich so nicht gesehen habe, weil ich erst viel später ans Haus gekommen bin: die leeren Museumsräume.
2024: leere Museumsräume eröffnen neue Spielräume
Damit eröffnet sich ein völlig neues Raumgefühl.
Und ich darf Ihnen heute eine der grundsätzlichen Entscheidungen verraten, die wir schon getroffen haben, obwohl wir ja erst 2025 eröffnen werden: Wir werden unseren Besucherrundgang komplett umdrehen. Bisher laufen Sie unten durch das Foyer in die Ausstellung rein und kommen oben an. Künftig werden Sie die Ausstellung von oben betreten und zunächst – wie zu sehen – in einen lichtdurchfluteten Raum gelangen, während es unten eine abgehängte Decke gibt. Sie werden dann den großen Vorteil haben, dass Sie immer von Ebene zu Ebene blicken – die Ausstellungsfläche ist ja terrassenförmig aufgebaut – und damit sehen können, was kommt. Das ist anders als jetzt, wo Sie komplett orientierungslos sind und überhaupt nicht wissen, was Sie noch vor sich haben. Deshalb sind heute eigentlich alle Besucher schon nach der Hälfte der Ausstellung erschöpft und rennen nur noch bis zum Ende durch, was jammerschade ist. Ich glaube daher, dass die Umkehr des Besucherrundgangs eine der grundlegenden, ja vielleicht sogar grundstürzenden Entscheidungen ist, die wir im Hinblick auf die Neugestaltung unserer Ausstellung getroffen haben.
Außerdem haben wir uns vorgenommen, dass so ikonische Objekte wie der kleine DIN A 4-Zettel – der sog. Schabowski-Zettel – noch viel besser inszeniert werden.
Ein ikonisches Objekt: der sog. Schabowski-Zettel
Dabei handelt es sich um den Sprechzettel, der so voll gekritzelt ist, dass – so glaube ich – jeder bei der schon erwähnten Pressekonferenz gescheitert und am Ende nur hätte stammeln können: „Das tritt nach meiner Kenntnis […] ist das sofort, unverzüglich“ – was falsch und so nicht gemeint war. Aufgrund dieser Falschaussage gerieten die Dinge ins Rollen und die Mauer fiel schließlich. Dieser Zettel ist derzeit nicht adäquat inszeniert. Das kann ich ganz selbstkritisch sagen, weil ich daran beteiligt war. Wir haben es einfach nicht besser hinbekommen. Das zu ändern, gehört zu der großen Aufgabe, die wir uns vorgenommen haben.
Wir haben allerdings schon bei unserer Sonderausstellung zu „Musik überwindet Grenzen“ vor einigen Jahren ein ganz anderes Raumgefühl geschaffen und einen ganz anderen Medieneinsatz gepflegt als in der Dauerausstellung. Dazu haben wir bspw. Großleinwände eingesetzt, die abwechselnd Konzerte von Rolf Biermann in Köln oder Bruce Springsteen in Ost-Berlin zeigten. Auch durch den Einsatz von Flightcases, wie sie Roadies verwenden, hatte man das Gefühl, sich mitten in einem Konzert zu befinden. Das war eine Atmosphäre, die wir bis dahin in der Dauerausstellung noch nicht erzeugen konnten. Daran wollen wir künftig anknüpfen.
Diese Folie zeigt eine Abbildung aus dem Imperial War Museum in London, das ich kürzlich besucht habe.
Eindruck aus dem Imperial War Museum in London
„Wie begann der zweite Weltkrieg?“ – Das ist zunächst eine ganz einfache Frage. Aber daran knüpft sich dann natürlich eine Geschichte. Das so groß und so unmissverständlich vor Augen zu stellen, ist ein guter Weg. Sehr gut haben mir im selben Museum auch die sog. „Information Points“ gefallen, an denen sich die Besucher – auch solche mit Hör- oder Sehbehinderungen – einen audiovisuellen Eindruck davon verschaffen können, was sie in der Ausstellung alles erwartet. Das ist auch ein Beispiel für Maßnahmen zur Verbesserung der Inklusion, ein weiteres Feld, auf dem wir noch besser werden wollen.
Wen wir erreichen wollen
Eine ganz entscheidende, auch mit unseren Gremien schon diskutierte Frage lautet: Für wen machen wir die Ausstellung? Wir machen sie für Sie. Sie würde ich pauschal als unsere Kernzielgruppe bezeichnen. Aber wir gehen natürlich auch darüber hinaus und hatten von Anfang an den Anspruch, ein Museum für alle zu sein, wobei klar sein muss, dass man „alle“ ohnehin nicht erreicht.
Die Stiftung hat schon sehr früh damit begonnen, Besucherforschung zu betreiben, um zu erfahren, wer unsere Besucher sind, aber auch, um sich vor Augen zu stellen, wer uns nicht besucht. Legt man den Ergebnissen dieser Untersuchungen ein vom Sinus-Institut entworfenes Gesellschaftsmodell zugrunde, ergibt sich das folgende Bild:
Gesellschaftsmodell des Sinus-Instituts
Daraus sind verschiedene Milieus, und wie sie bei uns vertreten sind, ersichtlich. Überrascht hat uns, dass das Milieu der „Adaptiv-Pragmatischen“, das in der Mitte der Gesellschaft verankert ist, bei uns deutlich unterrepräsentiert ist. Deshalb haben wir uns mit Blick auf die Gruppe der Nichtbesucher vor allem auf dieses Milieu fokussiert. Denn der Aufwand würde exponentiell steigen, wenn wir bspw. versuchen würden, auch das prekäre Milieu zu erreichen, wobei wir diese Gruppen selbstverständlich auch nicht ausschließen wollen.
Um in dem genannten Milieu weitere Besucher anzusprechen, haben wir uns ein Musterpublikum aus fünf fiktiven Gestalten überlegt, die aber eine sehr konkrete Biografie haben – sog. „Personas“. Diese „Personas“ sind bei unseren Überlegungen stets präsent und wir fragen uns, was eine konkrete „Persona“ zu einer bestimmten Ausstellungsidee sagen würde oder worauf sie „anspringen“ würde.
Eine solche „Persona“ ist bspw. Sofia, eine 42 Jahre alte griechische Ärztin. Sie gehört zum Milieu der „Performer/Liberal-Intellektuellen“, aber nicht zu denjenigen, die wir primär erreichen, weil sie eher kunstinteressiert ist, wenig Zeit hat und sich daher sehr gut überlegt, wo sie hingeht.
Manche der „Personas“ haben auch „Neben-Personas“, so z. B. die Persona „Georg“, ein 71-jähriger Rentner, der das Museum zusammen mit seiner 13-jährigen Enkelin besucht.
Zwei unserer „Personas“ sind Wiederholungs-, drei Erstbesucher, darunter z.B. „Jessica“, die unsere Ausstellung (nur) deshalb besucht, weil sie auf einer Bewertungsplattform wie etwa Google als „must-see“ bezeichnet wurde. Unser Ziel ist es, solche Besucher genauso zufriedenzustellen wie etwa „Eugen“, einen 48 Jahre alten Spätaussiedler aus Kasachstan, für den es eine Herausforderung ist, das Museum mit seiner gesamten Familie, einschließlich seiner auf einen Rollator angewiesenen Mutter, zu besuchen.
Oder „Mandy“, eine 18-Jährige aus dem Milieu der „Hedonisten“, die die Ausstellung – im Rahmen einer Schulexkursion – gezwungenermaßen betritt. „Mandy“ ist unsere größte Herausforderung, schon weil sie wenig von den ausgestellten Ereignissen bereits selbst erlebt hat.
Wie wir arbeiten
Wie arbeiten wir? Natürlich haben wir einen Zeitplan, auf dem alles vermerkt ist, was bis zur geplanten Eröffnung im Herbst 2025 erledigt sein muss.
„Corona“ hat auch unsere Arbeit beeinflusst. Wir haben einerseits darunter gelitten, andererseits aber auch positive Erfahrungen gemacht, z. B. weil selbst wir gelernt haben, dass und wie man Videokonferenzen erfolgreich durchführt. Das kommt uns sehr entgegen, weil wir an drei Standorten Mitarbeiter angesiedelt haben und die Ausstellung ausdrücklich standort- und abteilungsübergreifend vorbereiten wollten.
Wir haben uns auch neue Arbeitsmethoden überlegt, bspw. Workshops mit externen Experten, etwa zum Thema „visitor journey“. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie sich die Besucher in der Ausstellung selbst bewegen, sondern auch darum, wie sie sich auf der Website oder am Schalter informieren oder um Aspekte wie die Lage bzw. Zustand der Toiletten. Hintergrund ist, dass wenn auch nur ein Element auf einer solchen „visitor journey“ negativ ist – und das kann bspw. auch eine verdreckte Toilette sein – das ganze Erlebnis davon überschattet wird. Dabei haben wir uns auch in verschiedene Rollen versetzt und uns z. B. gefragt, was würde jemand wie Elon Musk (vor seinem Einstieg bei Twitter) machen, wie würden wir also vorgehen, wenn Geld überhaupt keine Rolle spielte. Diese häufig „verrückten“ Ideen dann in realistische Bahnen zu lenken, war dann der nächste Schritt.
Selbstverständlich verfügen wir über eine, sogar von uns selbst entwickelte, Datenbank, um die Objektrecherche zu professionalisieren. Darüber hinaus haben wir an unserem Berliner Standort mit Hilfe eines Mockups ausprobiert, wie man mit dem Verhältnis von Chronologie und thematischer Ordnung umgehen kann. Das war ein aufwändiges Verfahren, das evaluiert wurde, um daraus Schlüsse zu ziehen, wie man eine Ausstellung am sinnvollsten organisiert – immer vor dem Hintergrund, dass unser Publikum nicht Geschichte studiert hat. Unser Ziel ist es daher, Geschichte voraussetzungslos und möglichst attraktiv zu vermitteln.
Bonn ist derzeit noch als unser sog. „Labor“ zu sehen, in dem wir versuchen, neue medientechnische Angebote auszuprobieren.
Interaktive Museumräume als Experimentierfeld für medientechnische Angebote auf digitaler Basis
Hier geht es auch wieder um den 9.11.1989, aber jetzt insofern interaktiv, als die Besucher mit Karten und QR-Code-Lesestationen operieren können, was zu einer anderen Art der Auseinandersetzung mit dem Thema führt. Dieses Experiment ist auch durch die Nutzung der aufgrund von Corona freigegebenen staatlichen Mittel zur Digitalisierung möglich geworden.
Was wir zeigen
Was wollen wir künftig zeigen? Dazu kann ich im aktuellen Stadium – wir sind mitten in der Vorbereitung – noch nicht allzu viel Konkretes sagen. Feststeht immerhin, dass wir den Zeitraum, der jetzt viel größer geworden ist, in vier große Kapitel teilen wollen.
Prolog
Wie sie sehen, umfassen das erste und das dritte Kapitel dabei nur sehr kurze Zeitspannen. Dabei handelt es sich aber um Zeiträume, die auf die jeweils folgenden Jahre sehr große Auswirkungen hatten. Die Kapitel sind noch nicht auf die Fläche verteilt, aber Sie ahnen vielleicht, dass der Mauerfall, der in der aktuellen Ausstellung sehr weit hinten verortet ist, in der neuen Ausstellung irgendwo in die Mitte gehört.
Das Ganze wird dann natürlich nicht so grob geschnitzt weitergeführt, sondern es gibt eine Synopse, gleichsam ein Drehbuch, in dem wir in verschiedenen Spalten (Vermittlungsziel, Besuchszenario/Regieanweisungen, [Leit-]Objekte, Medieneinsatz, aktivierende und partizipative Elemente) unseren Gestaltern konkrete Anweisungen geben. Auf diese Weise wird sehr komplex, aber auch sehr kompakt dargestellt, was am Ende in den Räumen sichtbar sein wird.
Mit Blick auf das, was wir zeigen wollen, erweitern wir ständig unsere Sammlung, die mittlerweile gut 1 Mio. Objekte umfasst. Hier bspw. eine Reihe von Objekten, die wir aus dem Ahrtal nach der Flut übernommen haben, z.B. diese schlammbedeckte Puppe, der man ihr Schicksal ansehen kann.
Aktuelle Sammlungsstücke aus der Flutkatastrophe im Ahrtal
Die Waschmaschine, die in der Ecke gerade noch so erkennbar ist, stammt dagegen nicht unmittelbar aus dem Ahrtal, sondern von der Bundesbank, bei der mit ihrer Hilfe im Ahrtal von der Flut verdreckte Geldscheine „gewaschen“ wurden.
An dieser Bandbreite können Sie erkennen, dass wir zunächst versuchen, möglichst umfassend „von der Straße ins Museum“ zu sammeln, um dann im nächsten Schritt auszusuchen, welche Objekte verwendet werden können, um das Vermittlungsziel adäquat umzusetzen. So wird es bei der Flutkatastrophe natürlich in erster Linie darum gehen, die Tragik des Ereignisses darzustellen. Wir streben aber auch an, eine Verbindung zum Megathema des Klimawandels, das sich derzeit noch nicht prominent in der Ausstellung findet, herzustellen.
Auch aus der Ukraine liegen uns bereits Fundstücke vor, z.B. Granatsplitter oder ein Teller aus einer Wohnung, die sich in einem von einer Bombe getroffenen Haus befindet, und an dessen Zustand man erkennen kann, was geschehen ist. Insoweit verdeutlicht dieses kleine Objekt die Brutalität der Ereignisse ebenso, wie das der gezeigte verbogene Metallträger im Falle des Angriffs auf das World Trade Center tut.
Allerdings ist das Thema „Ukraine“ aufgrund seiner Aktualität noch nicht in der Gliederung abgebildet, wir werden aber natürlich darauf eingehen. Dabei liegt die Herausforderung für uns darin, dass wir nicht den Ukraine-Krieg als solchen, sondern (nur) seine Auswirkungen auf Deutschland und Europa abbilden können. Erleben wir also wirklich die beschworene Zeitwende? Und müssen wir möglicherweise auch die Zeit ab 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion neu erzählen, weil darin Dinge angelegt waren, die jetzt in diesem Krieg ausgebrochen sind? Das sind Herausforderungen, die zeigen, wie schwierig es ist, Zeitgeschichte auszustellen. Denn als wir noch überlegt hatten, ob Corona die Zäsur ist, hat noch niemand an den Ukraine-Krieg gedacht. Und bis 2025 kann natürlich auch noch Weiteres geschehen. Das müssen wir im Blick behalten.
Wie wir inszenieren
Abschließend möchte ich Ihnen zumindest eine Idee davon geben, wie wir uns der endgültigen Inszenierung der Ausstellung annähern wollen.
Wir haben in einer europaweiten Ausschreibung ein Amsterdamer Gestaltungsbüro, Kossman Dejong, gefunden, das bereits viele Ausstellungen gestaltet hat. Mit dieser Agentur sowie mit unserem Medienpartner Art + COM aus Berlin – in der Vergangenheit u.a. verantwortlich für das Futurium – arbeiten wir sehr intensiv zusammen. So haben wir uns erst jüngst in einem Workshop mit der Frage auseinandergesetzt, ob es neben den bereits erwähnten Kapiteln der Ausstellung auch einen Bereich geben soll, der dem „Heute“ gewidmet ist.
Im Grunde ist es ja vermessen, eine Dauerausstellung zum Thema „Zeitgeschichte“ zu machen; das ist ein Widerspruch in sich. Daher der naheliegende Vorschlag, ob man nicht ein fünftes Kapitel einfach „Heute“ nennen sollte, um dort – auch in einem anderen Duktus – auf aktuelle Entwicklungen wie z. B. den Ukraine-Krieg eingehen zu können. Diese Frage diskutieren wir derzeit.
Ein weiteres Problem, mit dem wir uns beschäftigen, ist die Tatsache, dass die „Erlebnisgeneration“ immer jünger wird und es immer weniger Besucher gibt, die die ersten Jahre unserer Ausstellungszeit noch selbst erlebt haben. Für alle anderen geht es um eine vermittelte Erinnerung, die wir aufrufen müssen. Das verändert sich im Laufe der Zeit. Diesen Punkt kann man nicht wichtig genug nehmen.
Wie gehen wir mit Blick auf die einzelnen Kapitel bzw. Zeitbereiche konkret vor? In Annäherung an die vier Bereiche haben wir gemeinsam mit den Gestaltern zunächst „Wortwolken“ gebildet und versucht, Stimmungen in Adjektiven festzuhalten. Dabei ging es nicht um die Inhalte, die ja schon in der Synopse erfasst sind, sondern um das Finden von Begriffen, die die Stimmung für die Kapitel charakterisieren.
Für das erste Kapitel ist einer dieser Begriffe der englische Ausdruck „foggy“ gewesen. Angelehnt daran ist uns als räumliche Metapher für diese vier Jahre von 1945 bis 1949 vorgeschlagen worden, Nebel als Bild zu entwickeln. Es geht darum, diese komplexe Zeit, diese krassen Gegensätze – doppelte Staatsgründung, Berlin Blockade, und anders mehr, diese Unabsehbarkeit, dieses Ausgeliefertsein einerseits, andererseits die herrschende Hoffnung – in ein zu Bild fassen. Wir können uns aktuell vorstellen, dass Nebel, der sich dann verzieht, diese Stimmung sehr gut einfängt. Umgesetzt werden könnte das z. B. durch den Einsatz von Rauch- bzw. mattiertem Glas.
Wir wollen also radikal neu denken, aber auch den Aspekt des Hereintretens in seine eigene Geschichte nicht vernachlässigen. Deshalb müssen auch diese neuen Gestaltungselemente Objekte aufnehmen und Raumensembles abbilden, wie wir das auch bereits in der aktuellen Szenografie der Ausstellung praktizieren. Das ist der große Anspruch, den wir haben.
Ich freue mich sehr, daran mitwirken zu dürfen, und dass Sie mir so aufmerksam gefolgt sind.
Die Zusammenfassung des Vortrages wurde auch als Broschüre gedruckt und kann unter Publikationen kostenfrei bestellt werden.
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