Der Zusammenbruch der alten Ordnung?
Die Krise der Sozialen Marktwirtschaft und der neue Kapitalismus in Deutschland und Europa
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Thomas Großbölting
Die Ergebnisse des wissenschaftlichen Symposiums wurden in einem Sammelband beim Steiner Verlag (Stuttgart) publiziert und können im Buchhandel bestellt werden: https://www.freiherr-vom-stein-gesellschaft.de/publikation.php?k=1&sk=135
Tagungsbericht
von Dr. Rüdiger Schmidt, Universität Münster
Die Tagung beabsichtigte, aus unterschiedlichen disziplinären Blickwinkeln die Geschichte und Gegenwart der Sozialen Marktwirtschaft zu diskutieren und damit eine Transformationsgesellschaft in den Blick zu nehmen, die in der französischen Historiographie und Publizistik mit großer Emphase als Les Trente Glorieuses beschrieben werden - als die dreißig glorreichen Jahre.
Dabei handelte es sich um eine Phase, die sich mit Edgar Wolfrum in vielerlei Hinsicht als Voraussetzung der geglückten Demokratie in der alten Bundesrepublik bezeichnen ließe. Der sozialstaatliche Kompromiss zügelte seinerzeit unter den Bedingungen von Vollbeschäftigung und Wachstum die Unkosten der Modernisierung, musste zu seiner Aufrechterhaltung aber spätestens seit den siebziger Jahren mit keynesianischen Reflexen reagieren, um die seitdem allmählich wachsende Arbeitslosigkeit und drohende Verteilungskonflikte einzudämmen. Die Konstellation des Neuanfangs nach der deutschland- und weltpoltischen Wende von 1989/90, der im internationalen Maßstab von einem als Globalisierung bezeichneten weltumspannenden Zusammenhang eines entgrenzten Waren- und Kapitalverkehrs begleitet wurde, kündete in sozialpolitischer Hinsicht rasch vom Ende durchgespielter Melodien. So erschwerte die ungemein beflügelte Kapitalmobilität den staatlichen Zugriff auf Gewinne und Geldvermögen, die sich international verschärfende Standortkonkurrenz führte zur Schrumpfung der Fiskalressourcen, und in der Folge zu Einsparungen im Sektor der öffentlichen Erziehungs-, Gesundheits- und Rentensysteme.
Insofern thematisierte die Tagung auch den Fluchtpunkt einer Entwicklung, der sich vorläufig und noch einigermaßen unscharf als "neuer Kapitalismus" bezeichnen ließe. Es geht um die Defizite, Folgen und Nebenfolgen einer Gegenwart, in der übrigens auch der "klassische", also der identitätsverbürgende Konstitutionszusammenhang von Markt und Demokratie als widerstandsfähiger Synthese hier und da tendenziell in Frage gestellt zu sein scheint. Allerdings verbindet sich mit dem Begriff des Kapitalismus schon seit geraumer Zeit nicht mehr (nur) eine Realitätszuschreibung, die dem linken Theoriearsenal entstammt, sondern der Terminus wird inzwischen ganz unbefangen ubiquitär verwendet und hat mit großer Selbstverständlichkeit auch im (neo)liberalen Diskurs eine Heimat gefunden. Dass ein bis dahin in der politischen Topographie links beheimateter Begriff - als Kapitalismus - hier quasi ausgebürgert und ganz unbefangen so auch für den Horizont eines liberal-konservativen Diskurses aufgeschlossen wurde, war allerdings provozierend neu, sollte in der intelektuellen Debatte der neunziger Jahre indes schließlich ganz selbstverständlich werden. Behaupten die einen, dass die Probleme der Gegenwart einem Zuviel an Kapitalismus geschuldet sind, so argumentiert die Krisendiagnose der anderen, dass die zeitgenössischen Probleme einem Zuwenig an Kapitalismus zu verdanken seien. Ob der neue Kapitalismus dem Individuum erweiterte Freiheitsspielräume eröffnet oder ob sich die "Molekularisierung des Subjekts" nur mit dem fortgesetzten Abschmelzen sozialer Amalgamierung verbindet, gilt als ebenso umstritten wie die Frage, ob der Rekurs auf die klassische soziale Marktwirtschaft als linkes oder konservatives Projekt zu bewerten wäre. Dieser Rekurs ist einerseits links, weil er auf die Rückgewinnung einst als unhintergehbar geltender sozialer Rechte und Leistungen zielt, und er ist andererseits ebenso gut konservativ, weil er sich nicht ohne einen Schuss Wehmut auf das golden age der sozialen Marktwirtschaft richtet, die ehedem die Substanz der Erfolgsgeschichte der alten Bundesrepublik augemacht hat.
Die Tagung verfolgte das Ziel, neuere Forschungen zur o.g. Fragestellung in interdisziplinärer Ausrichtung zu versammeln, disziplinübergreifend in den intellektuellen Austausch zu treten und somit zu einer Ideengeschichte sozialer Ordnungsvorstellungen nach 1945 einen Beitrag zu liefern. Für die Bearbeitung dieses breiten Spektrums wurden fünf thematische Schneisen in den Gegenstand geschlagen, die sich auch in der Tagungsstruktur wiederfanden:
Programm:
Mittwoch, 1. November 2017
18.30 Uhr | Abendessen
19.30 Uhr | Begrüßung & Einführung
Dr. Rüdiger Schmidt und Dr. Christoph Lorke (Münster)
20.00 Uhr | Ein neues Zeitalter der Extreme? Ordnungsvorstellungen und Krisennarrative in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Prof. Dr. em. Hans-Ulrich Thamer (Münster)
Donnerstag, 2. November 2017
Sektion I: Anspruch: "Wohlstand für alle". Soziale Marktwirtschaft und "Wirtschaftswunder" in der Bundesrepublik nach 1949
Moderation: Prof. Dr. Thomas Großbölting
9.10 Uhr | Die Ideen- und Wirkungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft. Von der Freiburger Schule bis zu Ludwig Erhard
Prof. Dr. Friedrun Quaas (Leipzig)
09.50 Uhr | Die katholische Soziallehre als Pfeiler der Sozialen Marktwirtschaft
Prof. Dr. Ursula Nothelle-Wildfeuer (Freiburg)
Kaffeepause
10.45 Uhr | Zwischen konstruktivem Beitrag und Fundamentalkritik: Kapitalimusdeutungen des westdeutschen Protestantismus in der frühen Bundesrepublik
Benedikt Brunner (Bonn)
11.25 Uhr | Die Bundesrepublik seit Mitte der 1970er Jahre: Wirtschaftskrise und "Tendenzwende"
Prof. Dr. Winfried Süß (Potsdam)
Sektion II: Systemkonkurrenz als Katalysator des Sozialstaats
Moderation: Dr. Sabine Kittel
12.05 Uhr | Die Bundesrepublik und die DDR: Ungleiche Konkurrenten im Wettbewerb der Systeme
Prof. Dr. Jörg Roesler (Berlin)
13.00 Uhr | Mittagessen
14.00 - 16.00 Uhr | gemeinsamer Spaziergang zur Ostsee
16.00 Uhr | Jenseits von Markt und Plan: Sozialistische Alternativen zum bürokratischen Sozialismus?
Dr. Ines Weber (Kiel)
Sektion III: Les "trente glorieuses". Europäische Wohlfahrtsregime in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Vergleich
Moderation: Lilith Buddensiek
16.40 Uhr | The Party is over? Großbritannien, das Narrativ des "Decline" und der Aufstieg von Margaret Thatcher
Almuth Ebke (Mannheim)
17.20 Uhr | Vom staatlichen Protektionismus zur familiären Subsistenz: Die Herausforderungen des Sozialstaates in Italien durch die beschleunigte Modernisierung des Landes ab den 1970er Jahren
Dr. Dr. Massimiliano Livi (Münster)
18.30 Uhr | Abendessen
20.00 Uhr | Der übersteigerte Wohlfahrtsstaat? Skandinavien und die Niederlande zwischen Vorbild und Ablehnung
Prof. Dr. Ilona Ostner (Göttingen)
Freitag, 3. November 2017
Sektion IV: Das Ende der alten Ordnung? Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft im neoliberalen Zeitalter
Moderation: Dr. Rüdiger Schmidt
09.10 Uhr | Sozioökonomische Lagen ostdeutscher Arbeitnehmerhaushalte in der Systemtransformation
Christopher Banditt (Potsdam)
09.50 Uhr | Laboratorium des Neoliberalismus? Die ostdeutschen Länder im vereinten Deutschland
Markus Böick (Bochum)
Kaffeepause
Sektion V: Repräsentationen, subjektive Aneignungen und Semantiken im neuen Kapitalismus
Moderation: Dr. Christoph Lorke
10.45 Uhr | Auf der Suche nach dem angepassten Subjekt: Flexibilität - Risikobewusstsein - Selbstoptimierung
Prof. Dr. Cornelia Koppetsch (Darmstadt)
11.25 Uhr | Kapitalismuskritik in der Krise: Von den Schwächen des "neuen Kapitalismus" und der Schwierigkeit, diese zu benennen
Dr. Lisa Suckert (Köln)
12.05 Uhr | Literarische und filmische Inszenierungen (gescheiterter) neoliberaler Selbstentwürfe
Cora Rok (Bonn)
13.00 Uhr | Mittagessen
14.30 Uhr | Abschlussdiskussion
Die Veranstaltung fand in Räumen und mit Unterstützung der Alfred-Toepfer-Stiftung vom 1.-3. Novermber 2017 im Seminarzentraum auf Gut Siggen in Ostholstein statt. Es handelte sich um einen geschlossenen Teilnehmerkreis.
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