Hauptstadtgespräche

25.10.2017: 18.00 Uhr | Deutscher Sparkassen- und Giroverband
Charlottenstr. 47 | Berlin-Mitte

Für einen zukunftsfähigen Föderalismus!

 

von Dr. Klaus Ritgen, Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.

alle Fotos: © Stein-Gesellschaft/M. Fahrig


Dr. Hans-Ulrich Schneider
Dr. Hans-Ulrich Schneider

Für den 25.10.2017 hatte die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft nicht nur zu ihrer diesjährigen Mitgliederversammlung, sondern auch zu einem weiteren Hauptstadtgespräch in die Räumlichkeiten des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV) eingeladen. Just an diesem Datum galt es auch, den 260. Geburtstag des Namenspatrons der Gesellschaft, des Freiherrn vom und zum Stein, zu begehen, der 1757 in Nassau das Licht der Welt erblickte. Rechte Feierlaune wollte unter den Beteiligten aber nicht aufkommen. Das lag am Thema des Abends, der zugleich auch der Vorstellung des neuesten Werks von Hans-Günter Henneke, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistags und Vizepräsident der Gesellschaft, diente. Unter dem Titel: „Aufgaben und Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Kommunen – Zur ausgefallenen Föderalismusreform 2017“ zeichnet der Autor darin Entstehung und Inhalt der 13 Grundgesetzänderungen nach, auf die sich der Bund und die Länder unter weitgehender Ausblendung des Parlaments noch ganz zum Ende der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages verständigt hatten.[1] Dieser „denkwürdige Ausklang“, wie ihn Dietrich H. Hoppenstedt als Präsident der Gesellschaft in seinen einführenden Worten sarkastisch charakterisierte, stellt wahrlich keine Sternstunde weder des Parlamentarismus noch des Föderalismus dar, dessen Bewahrung und Stärkung zu den Hauptanliegen der Stein-Gesellschaft gehört. Sorge macht aber nicht allein der Blick auf das Ende der letzten Legislatur; vielmehr stimmen auch der Ausgang der Bundestagswahl und die ersten Ergebnisse der laufenden Sondierungsgespräche der mutmaßlichen Koalitionäre der nächsten Bundesregierung wenig hoffnungsfroh, dass es auf absehbare Zeit zu einer Renaissance des Föderalismus in Deutschland kommen möge, von dem man gegenwärtig den Eindruck haben kann, dass er nur noch der Form nach existiert, aber nicht mehr gelebt wird.

 

Eine Rückbesinnung auf dieses seit jeher prägende Bauprinzip deutscher Staatlichkeit tut also Not, wie Klaus von Dohnanyi, Bundesminister a. D. und ehemals Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg, dem wiederum zahlreich erschienenen Publikum deutlich vor Augen führte. Anschließend diskutierten auf dem Podium unter Leitung von Henneke neben von Dohnanyi der Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin, Christian Waldhoff, sowie Jasper von Altenbockum, Ressortleiter Innenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Die Rolle des Gastgebers hatte an diesem Abend Hans-Ulrich Schneider, stellvertretender Geschäftsführer des DSGV, übernommen.

 

Die "ausgefallene" Föderalismusreform – oder: Gelegenheit macht Diebe

 

Die mit Gesetz vom 13.7.2017 bewirkten Änderungen des Grundgesetzes führen (mit Wirkung ab 2020) zu einer Abschaffung des bisherigen Länderfinanzausgleichs. Der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder soll ab diesem Zeitpunkt im Rahmen der horizontalen Umsatzsteuerverteilung Rechnung getragen werden. Hinzutreten soll eine Reihe von neu geschaffenen Ergänzungszuweisungen des Bundes. Außerdem erhält der Bund nun erstmals die Kompetenz, Maßnahmen zur Verbesserung der kommunalen Schulinfrastruktur mitzufinanzieren. Auch sonst zeichnet sich die jüngste „Föderalismusreform“, die damit im doppelten Wortsinn „ausgefallen“ ist, durch eine Reihe von Kompetenzeinräumungen zugunsten des Bundes aus. Wie konnte es dazu kommen, nachdem doch die beiden letzten Föderalismusreformen gerade erst auf eine Entflechtung und klarere Trennung der Verantwortungsräume von Bund und Ländern gesetzt hatten?

 

Zahlreiche Gäste beim 12. Hauptstadtgespräch
Zahlreiche Gäste beim 12. Hauptstadtgespräch

Äußerer Anlass der Reform war das Auslaufen des Finanzausgleichs- sowie des Maßstäbegesetzes, die beide bis Ende 2019 befristet sind. Der Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD aus dem Jahr 2013 reagierte darauf und kündigte eine Neuordnung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen an. Dazu sollte eine Kommission aus Vertretern des Bundes, der Länder und Kommunen einberufen werden, zu der es freilich nicht kam. Als entscheidender Motor der „Reform“ erwies sich dagegen der unbedingte Wille der sog. „Geberländer“ zur Abschaffung des Länderfinanzausgleichs, worauf sich sämtliche Ministerpräsidenten Anfang Dezember 2015 verständigten. Der Bund wies diesen Vorschlag nicht kategorisch zurück, sondern reagierte seinerseits mit einer Vielzahl von kompensatorischen Forderungen, die auf einen deutlichen Kompetenzzuwachs des Bundes, einschließlich umfassender Ingerenz- und Kontrollrechte, hinausliefen. Es mag dahinstehen, ob diese Forderungen in der Erwartung formuliert worden waren, auf diese Weise das Ländermodell der Abschaffung des Länderfinanzausgleichs zu Fall zu bringen, oder ob der Bund – getreu dem von Hoppen­stedt angeführten Motto: Gelegenheit macht Diebe – schlicht die sich ihm bietende Chance für einen deutlichen Machtzuwachs ergriffen hat. Fest steht jedenfalls, dass sich die Länder wesentliche Kompetenzen – wie von Dohnanyi es auf den Punkt brachte – ohne Not haben abkaufen lassen, was ihre Eigenstaatlichkeit zunehmend in Frage stellt. Henneke beklagte in der Diskussion dann auch einen Verfall der Länder und erinnerte an die Beratungen in der ersten Föderalismusreformkommission, in der Ministerpräsidenten wie Erwin Teufel, Roland Koch oder auch Peer Steinbrück noch kraftvoll für Länderinteressen eingetreten wären, während heute im Bundesrat geradezu darum gebettelt werde, Länderkompetenzen an den Bund abtreten zu dürfen, wie die jüngste Initiative zur Abschaffung des Kooperationsverbots zeige (dazu III.).

 

Immerhin mögen die Länder mit der aktuellen Reform insoweit zufrieden sein, als sie sich zugutehalten können, maßgeblichen Einfluss genommen und im Ringen mit dem Bund – und sei es auch um einen hohen Preis – bekommen zu haben, was sie verlangt hatten. Demgegenüber sahen sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestages auf die Rolle bloßer Statisten reduziert: Obwohl es doch um die Ausgestaltung von (auch) verfassungsändernden Gesetzen ging, hatten die Parlamentarier kaum eine Chance, auf deren Inhalt einzuwirken, da sie in die maßgeblichen Beratungen nicht einbezogen waren und letztlich nur ihre Zustimmung zu einem anderenorts, nämlich von den Exekutiven des Bundes und der Länder, ausgehandelten Kompromiss erteilen konnten. Das ist freilich, wie Henneke anhand von zwei Zitaten aus der Zeit der Verabschiedung des Solidarpaktfortführungsgesetzes zeigte, die genauso auch in der aktuellen Debatte hätten geprägt werden können, offenbar kein Charakteristikum der aktuellen Grundgesetzänderungen, sondern scheint schon fast den Gepflogenheiten zu entsprechen, wenn Fragen der Neuordnung der Bund-Länder-Beziehungen auf der Tagesordnung stehen.

 

Föderalismus ohne Föderalisten


Dr. Klaus von Dohnanyi
Dr. Klaus von Dohnanyi

Diese Geringschätzung, die dem Föderalismus aktuell entgegengebracht wird, ist umso erstaunlicher, als es sich dabei um ein die deutsche Verfassungsstaatlichkeit seit jeher prägendes Bauprinzip handelt, das – so von Dohnanyi in seinem einführenden leidenschaftlichen Plädoyer für den Föderalismus – gemeinsam mit dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung ganz maßgeblich zum Erfolg Deutschlands beigetragen hat. Von Dohnanyi erinnerte insoweit daran, dass Deutschland aus einer Vielzahl von kleinen, souveränen Staaten entstand, in denen der Zusammenhang zwischen Entscheidungsbefugnis und Folgenverantwortung gewahrt gewesen sei. Das habe auch zu einem gesunden Wettbewerb zwischen den Staaten geführt und dafür gesorgt, dass Lösungen gefunden wurden, die sich als besonders erfolgreich erwiesen: „Deshalb verdankt Deutschland seine heutige Stärke, seine wiederholte Fähigkeit der Erneuerung auch nach schwierigen und bitteren Niederlagen keinem Faktor so sehr wie seiner Dezentralisierung und der Geschichte des Föderalismus“. Man dürfe den Föderalismus allerdings nicht auf finanzielle Aspekte oder Rechtsfragen verkürzen: „Föderalismus ist eine durchgängige und ich sage politisch-moralische Frage. Ohne wirklichen Föderalismus stirbt das politische System der Demokratie.“ Entscheidend sei daher auch nicht die bloße Existenz von Gliedstaaten im Bundesstaat. Föderalismus müsse vielmehr auch aus Überzeugung gelebt werden: Ein Föderalismus ohne Föderalisten helfe nicht weiter.

 

 

Gegenwärtig – so von Dohnanyi – gebe es freilich einen Trend zum Ausbau eines Zentralstaates. Dem müsse mit einer Kampagne für den Föderalismus entgegengetreten werden. Der Föderalismus dürfe nicht der scheinbar höheren Effizienz zentralstaatlicher Lösungen geopfert werden, auch wenn es natürlich Dinge gebe, die in einem Bundesstaat zentral geregelt werden müssten.

 

Bleibt die Frage, warum die Idee des Föderalismus so wenig in den Köpfen der Politiker, aber wohl auch der Bürger verankert ist. Waldhoff führte dies in der Diskussion auf eine fehlende Identifikation mit den Gliedstaaten zurück. Während in den beiden anderen großen föderalen Systemen, nämlich der Schweiz und den USA, der Föderalismus aus kommunaldemokratischen Bewegungen gleichsam von unten nach oben gewachsen sei, sei der Deutsche Bundesstaat in seinem historischen Kern ein Fürstenbund gewesen. Tatsächlich dürfte heute die Identifikation mit dem eigenen Landkreis, der eigenen Stadt oder Gemeinde größer sein als mit dem jeweiligen Bundesland. Das entspricht im Übrigen ganz der Intention des Freiherrn vom Stein, der – wie von Dohnanyi betonte – mit seinen Reformen eine Stärkung und Wiederbelebung der kommunalen Selbstverwaltung erreichen und so auch ein Gegengewicht zu zentralstaatlichen Tendenzen schaffen wollte. Ob sich ein Landkreis, eine Stadt oder eine Gemeinde erfolgreich entwickle, hänge daher bis heute entscheidend von dem gestalterischen Willen und der gestalterischen Kraft der Landräte, der Bürgermeister und der Mitglieder der kommunalen Vertretungskörperschaften ab.

 

Aktuelle Herausforderungen: Bildung, Steuerverteilung, Digitalisierung


Damit waren die Grundlagen für die anschließende Diskussion gelegt, die sich mit den Themen „Bildung“, „Steuerverteilung“ und „Digitalisierung“ drei der derzeit wichtigsten Herausforderungen des föderalen Systems widmete.

 

Prof. Dr. Christian Waldhoff
Prof. Dr. Christian Waldhoff

Während der deutsche Föderalismus sich im Grundsatz dadurch auszeichnet, dass die legislativen Befugnisse im Wesentlichen beim Bund konzentriert sind und die Exekutive Domäne der Länder ist, sind im Bildungsbereich – jedenfalls bislang – alle Funktionen auf der Ebene der Länder konzentriert. Auch deshalb fußt die Eigenstaatlichkeit der Länder so stark im Handlungsfeld Bildung. Dieses Handlungsfeld scheint notleidend geworden zu sein. Dafür sprechen internationale Leistungsvergleiche, bei denen deutsche Schüler regelmäßig nicht auf den vorderen Plätzen zu finden sind, dafür sprechen aber auch Bilder, die marode, vom Verfall bedrohte Schulgebäude zeigen. Ob die Situation freilich wirklich so dramatisch ist, wie sie sich auf den ersten Blick darstellt, dürfte kritisch zu hinterfragen sein. Von Dohnanyi, der im Laufe seiner langen Karriere auch Verantwortung als Bundesminister für Bildung getragen hat, verwies etwa darauf, dass schon in den 1960er Jahren von Autoren wie Picht und anderen eine „Bildungskatastrophe“ ausgerufen wurde, die angesichts der wirtschaftlichen Erfolge Deutschlands so dramatisch nicht gewesen sein könne. Auch blendeten internationale Vergleichsstudien eines der Spezifika des deutschen Bildungswesens, nämlich das duale System, regelmäßig aus. Und auch was den Zustand der Schulen angeht, wird man sich davor hüten müssen, von einzelnen, zugestandenermaßen krassen Beispielen – namentlich in Städten wie Berlin – auf den Zustand der Schulen in ganz Deutschland zu schließen.

 

Ungeachtet solcher Relativierungen besteht – darin waren sich alle Diskutanten einig – Handlungsbedarf im Bildungsbereich, nicht zuletzt im Hinblick auf die jetzt anstehende Digitalisierung der Schulen. Die Frage lautet nur: Wer soll es machen? Glaubt man den Ländern Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Thüringen, so liegt das Heil beim Bund. Diese Länder loben in einem Anfang September im Bundesrat eingebrachten Entschließungsantrag nicht nur den bereits erwähnten Art. 104c GG, sondern fordern eine weitere, nicht mehr nur auf die schulischen Infrastrukturen bezogene Beteiligung des Bundes an der Finanzierung des Bildungssystems: „Es sollte zukünftig als gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden verstanden werden, die Einrichtungen aller Bildungsbereiche in die Lage zu versetzen, ihren Aufgaben noch besser gerecht werden zu können“.[2] Dass dies zu einem Ausverkauf bislang den Ländern vorbehaltener Gestaltungsmöglichkeiten im Bildungsbereich führen könnte, bleibt den Autoren des Antrags natürlich nicht verborgen. Sie fordern daher, „dass die fachliche Verantwortung zur Erreichung der bildungspolitischen Ziele weiterhin den Ländern obliegt“. Mit anderen Worten: Der Bund soll bezahlen, sich einer inhaltlichen Einflussnahme aber enthalten. Wie illusorisch ein solcher Ansatz ist, brachte Waldhoff mit der Formulierung auf den Punkt: Geld ist niemals neutral. Wer finanziert, will auch Einfluss auf die Verwendung des Geldes nehmen, und er findet immer Wege, diesen Einfluss auch geltend zu machen. Um Derartiges von vornherein zu verhindern, seien auch die Finanzierungskompetenzen im Grundgesetz eindeutig zugeordnet. Es dürfe nicht jeder finanzieren, was er finanzieren wolle.

 

Um dem mit der angestrebten Aufhebung des sog. „Kooperationsverbotes“ mithin notwendig einhergehenden Bedeutungszuwachs des Bundes ein Gegengewicht entgegensetzen zu können, schlagen die Länder überdies vor, „das Erfordernis der Zustimmung aller Länder zu den künftigen Kooperationsvereinbarungen“ vorzusehen. Die Länder wollen sich also freiwillig zu Uniformität verpflichten, wo Pluralität die Chance böte, ganz im Sinne des Wettbewerbsföderalismus neue Ansätze auszuprobieren und die erfolgreichsten Lösungen zu identifizieren. Der von den Ländern angestrebte Weg müsse, so Waldhoff, zu einem bundesweiten Mittelmaß führen. Auch von Dohnanyi lehnte diesen Vorschlag ab. Er sprach sich im Gegenteil dafür aus, den Wettbewerb zwischen den Ländern noch dadurch anzuregen, dass der Bund in die Lage versetzt werde, auch nationale Vergleichsstudien durchzuführen. Art. 91b Abs. 2 GG lässt dagegen bislang nur die Teilnahme an internationalen Vergleichen zu. Der Vorschlag der Länder stieß daher im Ergebnis auf einhellige Ablehnung aller Diskutanten. Waldhoff und von Altenbockum machten überdies deutlich, dass das Ziel der Länder nur über eine Verfassungsänderung zu erreichen sei.

 

Dr. Jasper von Altenbockum
Dr. Jasper von Altenbockum

Voraussetzung der vom Podium einhellig geforderten Eigenständigkeit der Länder im Bildungsbereich ist ihre aufgabenangemessene Finanzausstattung. Sind die Länder aufgrund fehlender Leistungsfähigkeit dagegen nicht in der Lage zu tun, was im Hinblick auf Herausforderungen wie Infrastruktur, Inklusion, Integration und Digitalisierung an den Schulen erforderlich ist, wird sich – wie von Altenbockum betonte – die zentrale Ebene aufgefordert (und durch entsprechende Wünsche der Eltern legitimiert) sehen, selbst tätig zu werden. Dass Instrumente wie Art. 104c GG insoweit nicht weiterhelfen, weil sie zu einer Verwischung der Verantwortungssphären führen und damit gerade nicht die Eigenständigkeit der Länder fördern, wurde schon festgestellt. Vielmehr muss der Weg beschritten werden, den das Grundgesetz als Regelfall vorsieht: Weiten sich die Aufgaben der Länder aus, muss ihnen ein höherer Anteil am Steueraufkommen zugewiesen werden. Henneke rief diesen Mechanismus in Erinnerung, verband dies aber auch mit der Frage, ob die Kriterien, nach denen das Steueraufkommen horizontal verteilt wird, noch aufgabengemäß seien. Er verwies in diesem Zusammenhang insbesondere darauf, dass die ostdeutschen Länder zwar mittlerweile deutliche Produktivitätsfortschritte erzielt hätten, bei der unmittelbaren Steuerverteilung aber dadurch benachteiligt würden, dass die Zentralen der großen Konzerne ihren Sitz alle im Westen der Republik hätten. Auch im kommunalen Bereich gebe es ein großes Gefälle zwischen gewerbesteuerstarken (und dann vielfach auch einkommensteuerstarken) sowie gewerbesteuerschwachen Kommunen – ein Gefälle, das noch dadurch vergrößert werde, dass es bei der Verteilung der kommunalen Umsatzsteueranteile – anders als bei den Ländern – ebenfalls auf die Steuerkraft der Kommunen ankomme.

 

Waldhoff stimmte dieser Problembeschreibung zu und erinnerte daran, dass bei der letzten großen Reform der Finanzverfassung im Jahr 1969 das örtliche Aufkommen als Grunddeterminante für die Verteilung der Ertragssteuern festgelegt worden sei. Insofern handele es sich freilich um ein ausgestaltungsbedürftiges Prinzip. Es müsse bspw. entschieden werden, ob es maßgeblich auf den Wohnsitz der Arbeitnehmer oder auf den Ort der Wertschöpfung am Sitz des Unternehmens ankommen solle. Über diese Frage werde nicht ausreichend diskutiert. Weder das BVerfG noch die Wissenschaft und schon gar nicht die Politik setzten sich damit im Einzelnen auseinander. Henneke ergänzte, dass es bis zu Beginn der 1990er Jahre regelmäßige Verhandlungen über die Steuerverteilung gegeben habe. Seit dem Inkrafttreten des Solidarpakts I sei dies aber zugunsten stark ausgeweiteter Finanzzuweisungen des Bundes an die Länder in den Hintergrund getreten.

 

Prof. Dr. Hans-Günter Henneke
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke

Damit war die Diskussion bei der Frage angelangt, inwieweit nach der Verteilung des Steueraufkommens verbleibende Unterschiede in der Finanzausstattung der Länder durch horizontale oder vertikale Umverteilungen ausgeglichen werden sollten. Solche Umverteilungen sind wichtig und richtig, darin waren sich alle Diskutanten einig. Zum Föderalismus gehöre es aber auch, Ungleichheiten in Kauf zu nehmen und auszuhalten. Das gelte insbesondere dann, wenn solche Ungleichheiten nicht Folge ungleicher Standortbedingungen seien, sondern auf Fehlentscheidungen beruhten, für die Verantwortung zu übernehmen sei. Ob man dabei – wie von Dohnanyi – selbst eine Insolvenz der Länder ins Spiel bringen sollte, sei dahingestellt.

 

Nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch im Handlungsfeld „Digitalisierung“ hat der Bund durch die jüngste „Föderalismusreform“ eine Stärkung erfahren. Für Henneke Grund genug für die Frage, ob sich mit der Digitalisierung ein neuer Zentralisierungsschub verbinden könne. Waldhoff wollte dies nicht ausschließen, da eine umfassende Digitalisierung auf der Ebene der Verwaltungsleistungen von Bund und Ländern nur gelingen könne, wenn kompatible Systeme geschaffen würden. Auch von Altenbockum warnte davor, dass der zwingend vorgesehene Einsatz einheitlicher Softwarelösungen auch zu Einschränkungen in der Entscheidungsautonomie der Länder und der Kommunen führen könne. Von Dohnanyi widersprach dem vehement. Die Digitalisierung werde weder zu einer Zentralisierung noch zu einem Autonomieverlust führen. Man brauche keine konformen Systeme, sondern müsse nur dafür sorgen, dass die Schnittstellen vereinheitlicht würden. Einig waren sich alle Diskutanten dagegen in der Einschätzung, dass Digitalisierung gerade für die ländlichen Räume große Chancen berge, sofern ein flächendeckender Ausbau der erforderlichen Infrastrukturen gelänge, was man nicht allein dem Markt überlassen dürfe.

 

Fazit

 

 12 Hauptstadtgespräch Dr. Hans-Ulrich Schneider, Prof. Dr. Christian Waldhoff, Dr. Georg Lunemann, Dr. Dietrich H. Hoppenstedt, Dr. Klaus von Dohnanyi, Dr. Thilo Sarrazin,
Dr. Jasper von Altenbockum, Prof. Dr. Hans-Günter Henneke (v.l.n.r.)

  

Das 12. Hauptstadtgespräch der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft hat vor allem eines deutlich gemacht: Die Idee des Föderalismus hat derzeit in Deutschland einen schweren Stand. Umso wichtiger ist es, immer wieder mit guten Argumenten für diese Idee zu werben. Das ist erneut hervorragend gelungen. Bleibt die Hoffnung, dass die Politik sich auf ihrer Reise nach Jamaika offen für solche Anregungen zeigt.

 

 12 Hauptstadtgespräch Präsidiumsmitglieder und Gäste der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.

 12 Hauptstadtgespräch Persönliche Gespräche zum Ausklang

  

Programm


17:30 Uhr | Empfang


18:00 Uhr | Begrüßung
Dr. Hans-Ulrich Schneider | Stellvertretender Geschäftsführer des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e.V.
Dr. Dietrich H. Hoppenstedt | Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.


Einführung ins Thema
Dr. Klaus von Dohnanyi Bundesminister a.D., ehemaliger Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg


Podiumsdiskussion
Dr. Klaus von Dohnanyi | Bundesminister a.D., ehemaliger Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke
Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages
Prof. Dr. Christian Waldhoff | Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Finanzrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin
Dr. Jasper von Altenbockum
 | Ressortleiter Innenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung


anschließend Imbiss

 


Die Öffentliche Podiumsdiskussion fand anlässlich der jährlichen Mitgliederversammlung der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V. statt – dieses Jahr erstmals in Berlin. Unser Dank gilt dem Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e.V. für die freundliche Unterstützung!

 



[1]: Dazu auch schon Ritgen, Der Landkreis 2017, S. 429 ff.; zu den Inhalten der Grundgesetzänderungen Henneke, Der Landkreis 2017, S. 355 ff.

[2]: BR - Drs. 621/17, S.2.

 

 

 

Die Zusammenfassung der Diskussion finden Sie als pdf-Datei zum Download hier:

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