Die Kommunen und ihre Einrichtungen: dezentrale Stabilitätsanker in den Krisen –
bereit für die Herausforderungen der Zukunft!?
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Helmut Schleweis, Reinhard Sager und Dr. Jasper von Altenbockum (v.r.n.l.)
Zu ihrem bereits 17. Hauptstadtgespräch hat die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft am Abend des 5.2.2024 in die Räume des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes eingeladen. Der Präsident der Gesellschaft und Hauptgeschäftsführer des Deutschen Landkreistages, Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, der auch die Gesprächsleitung der Podiumsdiskussion übernommen hatte, konnte aus diesem Anlasse erneut zahlreiche Gäste begrüßen. Diskutiert haben der Präsident des Deutschen Landkreistages , Landrat a.D. Reinhard Sager, der ehemalige Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Helmut Schleweis, sowie Dr. Jasper von Altenbockum, Redakteur Innenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, mit Henneke. Das Grußwort hat der Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes, Prof. Dr. Ulrich Reuter, überbracht, der dabei noch zwei weitere Amtsvorgänger – Heinrich Haasis und Dr. Dietrich H. Hoppenstedt – begrüßen konnte. Der nachfolgende Beitrag dokumentiert das Grußwort und den Verlauf der Diskussion.
Grußwort von Prof. Dr. Ulrich Reuter: Die Sparkassen und ihre Träger
Angesichts der Thematik der heutigen Veranstaltung ist man versucht, die zwischen der Entwicklung der Kommunen und ihrer Sparkassen bestehendern Zusammenhänge ausführlich zu erläutern. Das ist vor diesem kreis natürlich eigentlichen unnötig. Und dennoch muss man jede Chance nutzen, die wichtige Verbindung der Sparkassen mit ihren Trägern in ihrer Bedeutung für die Dezentralität und für die Stärke der Regionen ausfürhlich zu würdigen. Das ist tägliches Brot des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes (DSGV) hier in Berlin – und wir machen das gerne.
Prof. Dr. Ulrich Reuter
Sie sprechen heute über die Kommunen und ihre Einrichtungen als dezentrale Stabilitätsanker – und mit den im Titel erwähnten Einrichtungen sind sicher auch die Sparkassen gemeint. Denn Sparkassen und Kommunen gehören nicht nur zusammen, man kann sie auch nicht voneinander trennen. Und wer dies auch nur andeutet, muss mit unserem heftigen Protest und köperlichen Widerstand rechnen.
Es gehört zum Auftrag der Sparkassen und aller, die zum Sparkassenverband dazugehören, den Kommunen eng zur Seite zu stehen. Das ergibt sich aus der kommunalen Trägerschaft, der Bindung an das jeweilige Geschäftsgebiet und der Gemeinwohlorientierung der Sparkassen. Die enge Verbundenheit der Sparkassen mit den Kommunen beruht überdies vorallem darauf, dass wir alle, die Verantwortungsträger in den Sparkassen ebenso wie die Mitarbeiterinnen udn Mitarbeiter in den kommunalen Einrichtungen, ein gemeinsames Anliegen haben: die dezentrale Sicherstellung sozialer Sicherheit, die Ermöglichung einer selbstgestalteten Lebensführung in Stadt und Land und die Förderung der Wirtschaft vor Ort.
Für die meisten kommunal getragenen Sparkassen steht daher nicht nur die Rentabilität im Vordergrund, die wir natürlich auch nicht außer Acht lassen dürfen, sondern die bestmöglich Betreuung vor Ort, das den Bürgerinnen und Bürhern und Unternehmen im Geschäftsgebiet Dienen.
Dieses Bekenntnis zur Präsenz in der Fläche unterscheidet uns von anderen Kreditinstituten. Das wird an sehr vielen Ort in Deutschland sichtbar. Denn wir sind mit Geschäftsstellen vor Ort, während andere längst nicht mehr da sind oder es noch nie waren und es auch nie anstreben. Uns auch wenn wegen der demografischen Entwicklung und der digitalen Transformation in Zukunft nicht mehr in jeden Ort eine Filiale gehalten werden kann und muss: wir werden erreichbar bleiben und dem Anspruch an ein flächendeckendes Angebot weiterhin gerecht werden. Dass die Hälfte unserer Kundinnen und Kunden innerhalbt von 2,5 Minuten einen Geldautomaten erreicht, zeigt, dass wir diesen Auftrag ernst nehmen. Das wollen wir auch weiterhin sicherstellen.
Und weil es unser Selbstverständnis und zugleich unsere Pflicht ist, Menschen und Unternehmen vor Ort zu unterstützen, begleiten die Institute ihre privaten und gewerblichen Kunden auch in Zeiten von Inflation und Zinswende beim Sparen und Vorsorgen, beim Anlegen und Finanzieren. Mit dieser Hilfe zur Selbsthilfe tragen die Institute zum sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich, zur Dämpfung von Krisen, zur Stabilität bei.
Solche Beiträge sind gerade in Zeiten gesellschaftlicher Spannungen von großer Bedeutung, in Zeiten des wirtschaftlichen Umbruchs. Und in einer solchen Phase wurden die ersten Sparkassen vor mehr als 240 Jahren gegründet. Damals, sie erinnern sich: die Erfindung der Dampfmaschine, erste industrielle Revolution, die Menschen strebten in die Städte, in denen es Gewinner, aber auch Verlierer gab, es gab Wohnungsnot, sinkende Reallöhne, soziale Not. In dieser Situation haben Sparkassen finanzielle Daseinsvorsorge geleistet, bevor staatliche Arbeitslosen-, Renten- und Krankenversicherungen existierten.
Und wie damals bahnt sich auch heute eine technische Revolution, nämlich diejenige der Künstlichen Intelligenz an. Und auch hier wird es wieder, wie man hört und sieht, Gewinner, aber mgw. auch Verlierer geben. Wir stehen vor den Herausforderungen des Klimawandels, der demografischen Veränderungen, der Kluft zwischen Städten und ländlichen Regionen. Heute wie damals fürchten viele Menschen, abgehängt zu werden, und sorgen sich um ihre Zukunft.
Die Sparkassen sind auch in dieser Lage ein Teil der Lösung. Wir sind Vertrauensanker für Menschen und Unternehmen. Wir dienen Kommunen und Unternehmen. Wir diesen Kommunen als Stütze, von der energetischen Sanierung des Eigenheims bis zur klimagerechten Umgestaltung des Mittelständlers oder städtischen Infrastruktur. Die notwendige Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft wird von uns allen – von Unternehmen und Menschen sowie von den staatlichen Institutionen – einiges abverlangen.
Vor uns liegt also viel Arbeit, die uns keiner abnehmen wird. Aufgaben, für die es keine einfachen Lösungen gibt, kein Schwarz oder Weiß, kein Rot oder Blau, kein Ja oder Nein. Deshalb sehe ich es, sicher wie Sie auch, mit großer Sorge, wenn im Zuge der gegenwärtigen Verunsicherung solche vermeintlich einfachen Lösungen propagiert und dabei die Grundlane und Werte in Frage gestellt werden, auf denen unser Wohlstand in Deutschland beruht. Wir sind stark, weil ein demokratisches Land mit einer offenen Gesellschaft sind, mit mündigen, selbstbestimmten Bürgerinnen und Bürgern, die respektvoll miteinander umgehen. Besonders auch mit den Menschen, die aus anderen Ländern zu uns kommen und unsere Unterstützung brauchen. Wer das in Frage stellt, nimmt diesem Land auch seine Zukunftsfähigkeit. Denn wir sind auf internationale Zusammenhänge angewiesen; ich muss das gar nicht weiter ausführen.
Dass nun so viele Menschen beherzt für unsere Werte einstehen und sich einsetzen: Das stimmt mich zuversichtlich. Denn auch in schwierigen Zeiten müssen wir uns auf unsere unerhandelbaren Werte immer und immer wieder besinnen. Das alles heißt wiederum nicht, dass es keinen Anlasse zur Kritik gäbe. Auch wir beobachten die Dinge kritisch und äußern uns entsprechend.
Über den konkreten Auslser einzelener politischer Maßnahmen mag man streiten. Sicher ist aber, wenn man an die unternehmerische Seite denkt, an das Wirtschaftswachstum, das wir auch in den Regionen benötigen: unternehmerisches Handeln in Stadt und Land braucht mehr Respekt und Unterstützung. Alle politischen Entscheidungen, die in Zukunft getroffen werden, müssen nach meiner Überzeugung deshalb in den Mittelpunkt stellen, dasss die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit gestärkt und das unternehmerische Handeln ermutigt wird.
Auch in dieser Situation werden wir als Sparkassen unsere Kundinnen und Kunden nicht im Stich lassen, sondern so gut es geht unterstützen. Indem wir bessere Anbindung und Infrastruktur ermöglichen, weil wir digitale Datennetze fördern, weil wir die Energie- und Wärmewende mitgestalten, den klimagerechten Umbau von Landkreisen und Städten mitfinanzieren und dadurch z.B. auch den CO2-verbesserten ÖPNV voranbringen. All das – diese wenigen Stichtworte mögen genügen – sind Herausforderungen, über die wir heute Abend diskutieren können.
Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung: Sie wissen, ich bin noch nicht lange in diesem Amt. Mein Berufsleben hat auch nicht in einer Sparkasse begonnen. Ich war vielmehr 18 Jahre lang Landrat im Kreis Aschaffenburg und habe mich ebenso lang im Verwaltungsrat der Sparkasse Aschaffenburg-Alzenau im Wechsel mit dem Oberbürgermeister engagiert, wie das in vielen Sparkassen üblich ist und gut funktioniert. Während dieser 18 Jahre habe ich hautnah erlebt, mit welchen Aufgaben und Fragen sich Vertreterinnen und Vertreter der Kommunen tagtöglich beschäftigen müssen und wie groß die Herausforderungen vor Ort tatsächlich sind. Die Kommunen als Stabilitätsanker. Sie sind als Träger der Daseinsvorsorge für die Menschen da, wenn sie in Not geraten, wenn sie krank werden, wenn sie öffentliche Infrastrukturen brauchen.
Landrät:innen und Oberbürgermeister:innen achten vor Ort darauf, dass sich die Sparkasse als Teil der Lösung versteht und entwickelt und dabei hilft, das Leben vor Ort besser zu machen. Dieses Leitbild treibt auch die Präsidenten der Regionalverbände und – liebe Vorgänger – des DSGV an. Teil der Lösung zu sein, das Leben der Menschen besser zu machen: Das gelingt nur gemeinsam im Zusammenwirken von Sparkasse und Kommunen sowie deren Einrichtungen. Deshalb freue ich mich ganz besonders auf diese enge Zusammenarbeit auch mit den kommunalen Spitzenverbänden und freue mich auf die Diskussionsrunde der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, für die wir heute Gastgeber sein dürfen.
Diskussion
Dr. Jasper von Altenbockum, Reinhard Sager, Helmut Schleweis, Prof. Dr. Hans-Günter Henneke (v.l.n.r.)
Henneke: Es ist auch für mich eine besondere Situation, hier vier Präsidenten des DSGV begrüßen zu dürfen. Ich habe – außer bei Ulrich Reuter – bei allen als Vizepräsident mitwirken dürfen und darf mich daher zunächst bei Ihnen, Herr Reuter, dafür bedanken, dass sie die von Dietrich H. Hoppenstedt und Heinrich Haasis 2010 begründete Tradition fortführen und der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft die Möglichkeit geben, ihre Hauptstadtgespräche in den Räumen des DSGV durchführen zu können. Begrüßen möchte ich ferner Klaus Rathert, den ehemaligen Präsidenten des Sparkassenverbandes Niedersachsen, Judith Pirscher, Staatssekretäring im Bundesministerium für Bildung und Forschung, die zahlreich erschienenen Mitglieder des Präsidiums der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft und nicht zuletzt die vielen Vertreterinnen und Vertreter der kommunalen Ebene, insbesondere André Berghegger, bis vor kurzem noch Abgeordneter des Deutschen Bundestags und jetzt Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes und Mitglied des DSGV-Vorstandes, sowie Ingbert Liebing, den Hauptgeschäftsführer des Verbandes der kommunalen Unternehmen und früheres Mitglied des Deutschen Bundestages.
Zum Thema des heutigen Abends. Vieles von dem, was wir behandeln wollen, hat Ulrich Reuter schon angerissen. In der Tat wollen wir noch einmal vertiefen und losgelöst von vorgestanzten Floskeln, die sich eingebürgert haben, über das Verhältnis der Kommunen zu ihren Sparkassen reden, und das von Anfang an.
Eines möchte ich gleich eingangs noch betonen: Das Thema der kommunalen Entwicklung, der Sicherung der Daseinsvorsorge durch die Kommunanen und ihre Sparkassen, ist für mich im Jahr 2024 angesichts der Kommunalwahlen in acht Flächenländern und Hamburg sowie der Landtagswahl in drei Bundesländern von zentraler Bedeutung.
Das zeichnet die Hauptstadtgespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft in Übringen aus. Wir sprechen immer wieder Themen an, die Gesellschaft und Politik bewegen. Das zeigt auch ein Blick auf die beiden letzten Hauptstadtgespräche. Unmittlbar nach Corona haben wir uns mit Fragen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner Kontrolle beschäftigt. Wenn Sie heute die Zeitung lesen, werden Sie mir sicher zustimmen, das wir weiter wären, wenn alle sich an das seinerzeit Besprochene gehalten hätten. Thema des letzten Gespräches – hier im Hause – war "Grenzenlose Staatsverschuldung", auch dies eine Fragestellung, die uns aktuell sehr stark beschäftigt. Ich hoffe daher und bin mir sicher, dass das heutige Gespräch unter Mitwirkung von Reinhard Sager, Helmut Schleweis und Jasper von Altenbockum, die alle drei das Thema seit Langem an verantwortlicher Stelle begleiten, erneute Impulse setzen werden.
Ulrich Reuter hat gerade gesagt, die Gründung der Sparkassen liege 240 Jahre zurück. In den letzten Monaten hat man gelegentlich auch die Zahl von 250 Jahren gehört. Daran anknüpfend wollen wir uns zunächst mit der historischen Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung und der Sparkassen beschäftigen, bevor wir den Blick auf die Gegenwart richten.
Zur Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung und der Sparkassen
Die Geschichte der kommunalen Selbstverwaltung beginnt für uns mit dem Freiherrn vom Stein und insbesondere seiner Nassauer Denkschrift aus dem Jahr 1807. Reformen macht man immer dann, wenn die Lage schlecht ist, und im Preußen jener Jahre war das definitiv der Fall. Helmut Schleweis hat auf der letzten Jahrestagung des Deutschen Landkreistages betont, dass Landkreise immer dann besonders erfolgreich waren und sind, wenn es um die Bewältigung von Krisen geht. Darauf werden wir noch zurückkommen.
Doch zunächst zu Stein. Kern der Nassauer Denkschrift ist seine Kritik an der damaligen, obrigskeitsstaatlichen Verwaltung. Vom "Mietlingsgeist", der sich in die Beamtenschaft eingenistet habe, ist die Rede. Dem wird ein Modell entgegengesetzt, in dem die Verwaltung nicht Sache ortsfremder Amtsträger, sondern von Menschen ist, die ihre Heimat lieben und die das, was sie können und kennen, in die Verwaltung einbringen. Es geht also um die Aktivierung der Bürgerschaft vor Ort, um unmittelbare Mitwirkung, um bürgerschaftliches Engagement, insbesondere zunächst in den Städten. Preußen war damals nur noch Ostelbien, während bspw. Hamburg und weitere Teile Deutschlands seinerzeit zu Frankreich gehörten. Der Steinsche Gedanke der Selbstverwaltung gelangte daher erst sehr viel später auch auf das "platte Land", eigentlich erst in den 1870er Jahren. Dazwischen hat sich langsam kommunale Selbstverwaltung entwickelt – und das gilt auch für die Sparkassen. Vor diesem Hintergrund meine erste Frage an Helmut Schleweis: 250 Jahre – warum immer der Rückgriff auf dieses Datum und nicht auf einen späteren Zeitpunkt, als es erst wirklich zur Verbreitung der Sparkassen kam? In den 1770er Jahren hatten wir schließlich nur einzelne Gründungen, die nachher völlig vergessen wurden.
Judith Pirscher, Helmut Schleweis, Heinrich Haasis, Dr. Dietrich H. Hoppenstedt, Prof. Dr. Ulrich Reuter (v.l.n.r.)
Schleweis: Das lässt sich relativ leicht erklären. Natürlich gibt es den alten Streit, wer die älteste Sparkasse ist. Göttingen, 1801 als erste kommunale Sparkasse, oder ist es die Hamburger Ersparungsclasse, 1778. Für uns war immer wichtig: Der Sparkassengedanke kommt aus der Zeit der Aufklärung. Wir wollen den Menschen helfen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Es ging daher zunächst um rein philanthropische Gedanken. Richtig ist aber auch, dass Sparkassen niemals so erfolgreich geworden wären, wenn sich daraus nicht eine kommunale Massenbewegung entwickelt hätte. In Baden – nicht von den Kommunen gegründet, schon, weil es seinerzeit noch keine Kommunalverfassung gab. Es handelte sich vielmehr um staatliche Initiativen.
Der Sparkassengedanke kommt also einerseits klar aus dem Bürgerengagement, sein Erfolg beruht andererseits allerdings auf der kommunalen Bindung, aus der sich letztlich die Stärke der Sparkassen entwickelt hat. Wenn wir nach der Entstehung der Sparkassenidee fragen, ist die genannte Zahl – seien es nun 240 oder 250 Jahre – mithin zutreffend.
Henneke: Dazu noch eine Nachfrage: Wir sprechen hier ja im Grund über die Frage, was Sparkassen von Genossenschaften unterscheidet? Kommt es nicht für das Kernmodell der Sparkassen darauf an, dass es einen Träger gibt, der für "seine" Sparkassen einsteht? Und damit in Zusammenhang stehend: Woraus leiten die Sparkassen ihre Aufgaben ab? Geben sie sich diese selbst? Wenn sie sie sich gäben, könnten sie frei über die Fortführung ihrer Geschäfte oder per das Geschäftsgebiet entscheiden?
In diesem Zusammenhang möchte ich Sie mit dem Zitat eines Mitglieds der patriotischen Gesellschaft Hamburgs zu den dortigen Verhältnissen um Zeitpunkt der Gründung der Ersparungsclasse konfrontieren. Wörtlich: "So war freilich die Periode von 1763 bis 1788 eine der schlechtesten für den Wohlstand Hamburgs. Nicht nur die Gassen unserer Stadt, sondern weitmehr die schönen Promenanden um dieselbe, waren von Bettlern so angefüllt und deren Ungestüm so unausstehlich, dass alle Annehmlichkeit derselben wegfiel." Steins auf die Idee der Selbstverwaltung angewandter Gedanke der großen Not passt also im Grunde auch auf diese Situation – oder?
Schleweis: Sparkassen haben ihre Notwendigket stets in Krisenzeiten unter Beweis gestellt. Wir können insoweit an die Weltkriege denken oder auch an die Zeit der Bankenkrise in den 30er Jahren. Insoweit war auch die Ersparungsclasse eine Antwort auf die beschriebene Lage. Von daher sind wir uns völlig einig, auch wenn wir es mit anderen Worten ausdrücken: Die Idee "Sparkasse" kam aus einem philanthropischen Ansatz, der seitherige Erfolg beruht aber auf ihrer Verfasstheit, auf der kommunalen Bildung und auf der Art und Weise, in der sich die Sparkassen letztlich organisiert haben. Eine private kann dieselben Leistungen erbringen wie eine kommunale Sparkasse; sie kann sich aber auch jeden Tag für eine andere Art der Geschäftspolitik entscheiden, während die kommunalen Sparkassen nach dem geltenden Sparkassenrecht genau diese Wahlfreiheit nicht haben, weil sie einen öffentlichen Auftrag zu erfüllen haben und vor Ort verankert sind. Die Sparkassen haben diese örtliche Verankerung angenommen und leben sie auch.
Henneke: Ich glaube, mit diesem Fazit können wir leben und uns arrangieren. Wir wollen auch nicht im 19. Jahrhundert hängen bleiben, aber doch immerhin feststellen, dass das ganze 19. Jahrhundert von zunehmenden kommunalen Aufgaben, auch von Selbstverwaltungsaufgaben in der Fläche, gerade auf der Kreis-, weniger auf der Gemeindeebene, geprägt war. Es gab eine Sparkassengründungswelle, doch noch arbeiteten sowohl die Kommunen wie die Sparkassen jede für sich. Es handelte sich im Grunde also um kleine Punkte in der Landschaft, so dass sich die Frage von Vernetzung, eines Verbundes, der interkommunalen wie der Zusammenarbeit der Sparkassen noch nicht stellte, sondern erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts virulent wurde. Das gilt sowohl für den Sparkassenbereich, wo sich 1907 erst Verbandsstrukturen abzeichneten, wie für den kommunalen Bereich mit der Gründung des Städtetags 1905, während der Landkreistag erst im Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Dann setzte aber in der Weimarer Republik, nach dem Ersten Weltkrieg, eine Situation ein, in der sich die Kommunanen, die Sparkassen und anderer kommunale Einrichtungen enorm bewähren mussten. Deutschland hatte den Krieg verloren, es gab massenhaft demoralisierte Kriegsheimkehrer, viele Tote und Verletzte, traumatisierte Jugendliche. Es folgte die Zeit der Inflation, der hohen Arbeitslosigkeit. Wie sah das für die Kreise aus?
Sager: Das war selbstverständlich eine unvergleichlich schwierigere Zeit als heute. Auch heute reiht sich zwar eine Krise an die andere bzw. überlagern sich die Krisen. Ich erinnere nur an Corona, an die Finanzkrise oder die Flüchtlingskrise der Jahre nach 2015 und auch aktuell wieder. All dies hält aber keinem Vergleich mit der damaligen Situation stand, als nur Not und Elend herrschten. Die Kreise hatten sich seinerzeit bereits als die kommunale Ebene herausgebildet, die im ländlichen Raum eine Bündelungsfunktion wahrnimmt. Zu den wichtigsten Aufgaben der Kreise gehörte die Daseinsvorsorge für die Menschen. So stellte sich die Lage dann auch wieder nach dem Zweiten Weltkrieg dar.
Henneke: Herr von Altenbockum, wie bewerten Sie die Entwicklung von Stadt und Land zu Zeiten der Weimarer Republik?
Von Altenbockum: Die Notwendigkeit zur Bildung von Verbänden, zur Vernetzung, wie es dann insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg praktiziert wurde, ist in jener Zeit dramatisch gestiegen. In der Weimarer Republik hat diese Entwicklung leider nicht dem geführt, worauf wir heute bauen können, nämlich auf eine doch beachtliche Stabilität von Institutionen. Das lag damals sicher auch daran, dass es viele Absicherungssysteme noch nicht gab, auf die wir heute zurückgreifen können. Was Sie sagen, was Sie für das 19. Jahrhundert beschrieben haben, das gilt natürlich bis heute und galt auch für die Weimarer Republik, dass nämlich im Grunde genommen die kommunale Selbstverwaltung immer eine Institution war, die am besten in Notsituationen funktioniert hat, wenn man auf das unmittelbare Bürgerengagement zurückgeworfen wurde. In der Weimarer Republik ist das augenfällig geworden, wurde dann durch die Gleichschaltung unterdrückt, konnte aber nach dem Zweiten Weltkrieg relativ leicht wieder aufleben.
Henneke: Die preußische, die Hardenbergsche Idee der Kreisbildung, der Gedanke, Integration von Menschen durch Verwaltungen in überschaubaren Räumen zu ermöglichen, hat also eine Struktur geschaffen, die sich dann in der Krise bewähren konnte. Die ehemals königlichen Landräte sind in der Weimarer Republik zwar reihenweise abgewählt worden; die kreislichen Strukturen blieben aber erhalten, auch, als zunehmend Kompetenzen von Preußen auf das Reich verlagert wurden. Und diese Kreise mussten sich – gemeinsam mit Städten und Gemeinden – um die Versorgung der Menschen vor Ort kümmern. Die kommunale Selbstverwaltung hat dadurch einen Schub bekommen, der auch zu ihrer Verankerung in der Weimarer Reichsverfassung geführt hat. Dann kam die Wirtschaftskrise, Herr Schleweis.
Schleweis: In dieser Situation haben auch die Sparkassen ihre Aufgabe geleistet. Es handelte sich ja um schockartige Ereignisse, bspw. wurde der Zahlungsverkehr von einem Tag auf den anderen eingestellt. Schon in den Jahren 1925/26 stieg die Sparrate dann aber wieder an. In diesen Jahren haben die Sparkassen auch erstmals damit begonnen, Werbung zu betreiben. Allerdings haben sie keine Konkurrenzwerbung gemacht, sondern sie haben für den Spargedanken geworben, der durch die Inflatione angeschlagen war. Dann die Bankenkrise 1931, wie eine ähnliche Situation. Erneut wurde der Zahlungsverkehr für zwei Tage eingestellt. Damals hat der Deutschlandfunk den seinerzeitigen Sparkassenpräsidenten, Dr. Kleinert, gebeten, Worte über den Rundfunk an die Bevölkerung zu richten, was er auch gemacht hat. Es wird davon berichtet, dass diese Rede an die Sparer:innen zur Milderung der Krise beigetragen haben soll.
Henneke: Das erinnert mich an die Krisensituation im Oktober 2008. Allerdings war seinerzeit nicht der DSGV-Präsident gefragt, sondern waren es Kanzlerin Merkel und Finanzminister Steinbrück, die an die Mikrofone traten und Bürgerinnen und Bürgern versicherten, dass ihre Spareinlagen sicher seien. Das gründete sich auf nichts, schaffte aber Vertrauen.
Schleweis: Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass man Sparkassen-Präsidenten nicht unterschätzen darf!
Henneke: Das ist Ihnen gelungen. Zurück ins Jahr 1931. Nun kommt Hindenburg ins Spiel. Die Kommunen waren für die Armenfürsorge zuständig. und damit völlig überfordert, zumal die Sozialversicherungen erst im Aufbau waren. In dieser Situation ab es eine Notverordnung des Reichspräsidenten, de eine organisatorische Trennung von Kommunen und Sparkassen anordnete. Das hatte es bis dahin nicht gegeben. Auch die berühmte Hamburger Spraasse ist im 19. Jahrhundert durch die Gründung von zwei Geldannahmestellen im Stadthaus wieder ins Leben getreten. Damit war 1931 Schluss. Die Sparkassen wurden verselbständigt, die Anstaltsform wurde vorgeschrieben, Anstaltslast und Gewährträgerhaftung der Kommunen für ihre Sparkassen wurde begründet und es gab ein Verbot des Kommunalkredits, weil man den Kommunen im Hinblick auf die Rückzahlung nicht vertraute – eine schwierige Zeit für Sparkassen wie Kommunen.
Kommunen und ihre Sparkassen in der Gründungsphase der Bundesrepublik
Jetzt springen wir, Herr Sager hatte es schon angesprochen, in die nächste Krise: 1945 hatten wir nach dem 8. Mai die Situation, dass die höchste staatliche Ebene, die noch existierte, die der Kreise und kreisfreien Städte war. Die Sparkassen und die weiteren kommunalen Einrichtungen gab es natürlich auch noch. Können wir diese Zeit kommunaler Freiheit, der Prägekraft von Figuren vor Ort, von Landrät:innen und Oberbürgermeister:innen, etwas illustrieren?
Schleweis: Unmittelbar nach dem Krieg war die Bildung und der Fortbestand von Verbänden bekanntlich verboten, auch mit Blick auf Kartelle. Die Sparkassen haben dann aber relativ schnell, zunächst in den jeweiligen Zonen, dann aber auch zonenübergreifend, Arbeitsgemeinschaften gebildet, um die Stärke, die Sparkasse brauchen, wieder zu generieren. Aus diesen Arbeitsgemeinschaften hat sich dann, als es wieder zulässig war, der DSGV als Verein – sein Vorläufer, die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Sparkassen- und Giroverbände war nich eine öffentlich-rechtliche Körperschaft gewesen – mit Sitz in Bonn gegründet. Man sieht: Sobald der Druck von außen nachlässt, haben sich die Sparkassen organisiert und zu ihrer Stärke zurückgefunden. Das war auch nach der Wiedervereinigung so. Die prägenden Gestalten dabei waren in der Regel die Oberbürgermeister:innen und Landrät:innen.
Henneke: Stichtwort Expansion der Geschäftstätigkeit.
Schleweis: Die Sparkassen sind seit der Zeit ihrer Gründung immer sehr kontinuierlich gewachsen. Von der eigenen Sparkasse kann ich berichten, dass schon im 19. Jahrhundert sowohl die Aktiv- wie die Passivseite gewachsen ist, wobei die Art der Kredite unterschiedlich war. Nach dem Krieg waren die Sparkassen dann natürlich vor allem prägend beim Wohnungsbau. Die Bereitschaft der Menschen, den Sparkassen Geld anzuvertrauen, aber auch die Wiederanlage dieser Gelder nach dem Motto: "Aus der Region, für die Region" entwickelte sich fortlaufend, nicht in Schüben, und das immer in engem Schulterschluss mit den Kommunen.
Henneke: Und die Kommunen?
Sager: Ich glaube, die Entwicklung der Sparkassen sowie der Landkreise ging immer dann am besten vonstatten, wenn man Hand in Hand die Dinge vorangetrieben hat. Bis 2008 ist das ja auch gut gelungen. Über ihre Verbindung zu den Landesbanken hat sich die Finanzkrise dann auch auf die Sparkassen ausgewirkt. Salopp ausgedrückt: Wenn man Geschäfte macht, die man nicht überblicken und bei denen man nachts nicht mehr schlafen kann, dann darf man sich nicht wundern, wenn es schiefgeht, was dann ja auch passiert ist. So etwas darf sich nach meinem Dafürhalten nicht noch einmal wiederholen.
Achim Brötel, Dr. Irene Vorholz, Dr. Jasper von Altenbockum, Dr. Kay Ruge (v.l.n.r.)
Überschaubare Größenordnungen von Sparkassen sind deshalb so wichtig. Auch die Zusammmenarbeit mit dem Oberbürgermeister:in, dem Landrat:in, den Verwaltungsräten, ist eminent wichtig. Genauso die Kenntnis darüber, was im eigenen Geschäftsgebiet geschieht: Wer ist dort wirtschaftlich tätig, wem kann ich vertrauen, wo muss ich vielleicht auch einen Risikokredit vergeben, weil es sich um ein gutes Startup handelt, wo kann eine Tradition weitergeführt werden – diese Geschäfts- und Fachkenntnisse kann man nur haben, wennn man sowohl sparkassenseitig wie auch kommunal die Dinge noch überblicken kann. Das spricht für eine gewisse Örtlichkeit und setzt als Petitum voraus, dass die Strukturen überschaubar bleiben.
Noch einmal zurück zur Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Natürlich haben sich die Landkreise damals und in der Zeit seither als Selbstwaltungskörperschaften bewährt. Der Zusammenhalt der örtlichen Gemeinschaft war in Krisen immer besonders ausgeprägt. Das konnte man zuletzt anlässlich des Hochwassers in Niedersachsen wieder beobachten. In der Krise stehen die Menschen zusammen, z.B. wenn Deiche Gefahr laufen zu brechen. In Schleswig-Holstein war es nach dem Krieg so, dass dort besonders viele Flüchtlinge aufgenommen wurden; auf 10.000 Einwohner:innen kamen 7.000 Flüchtlinge. Schon 1943 hatte man über 200.000 Flüchtlinge aufgrund der Angriffe der Alliierten auf Hamburg aufgenommen. Dass man es geschafft hat, in einem Bundesland mit etwa 1,6 -1,7 Millionen Menschen nochmals 1 Million Menschen zusätzlich unterzubringen und zu integrieren, war eine große Leistung, die auch nicht ohne die Landkreise und Gemeinden mit tatkräftig anpackenden Mitarbeiter:innen in den Verwaltungen zu bewältigen gewesen wäre.
Henneke: Und die wirtschaftliche Entwicklung? Steuerung in der Fläche? Unternehmensansiedlungen?
Sager: Ich glaube, dass sich das von den fünfziger bis in die siebziger Jahre mit großer Schubkraft entwickelt hat, aber kontinuierlich und im Zusammenwirken mit den Sparkassen, wobei, dass sei nochmals betont, die Überschaubarkeit und Kenntnis von den handelnden Personen eine entscheidende Rolle spielten.
Henneke: Herr von Altenbockum, wenn Sie die fünfziger Jahre vergleichen mit dem Beginn der siebziger Jahre – wie haben sich die Lebensverhältnisse in Deutschland in der Stadt und in der Fläche entwickelt? War das nicht ein großer Aufholprozess des ländlichen Raums und worauf in dieser zurückzuführen? Doch nicht auf ein ganzes Geflecht von Bundesgesetzen, die Aufgaben vorgeschrieben haben, damit wir vergleichbare Verhältnisse bekommen – oder?
Von Altenbockum: Für die Nachkriegszeit muss man zunächst festhalten, dass die Städte zerstört, der ländliche Raum aber noch weitgehend funktionsfähig war. Und – um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen – nach dem Krieg haben ja nicht nur die Kommunen schnell ihre Arbeit wieder aufgenommen, sondern auch die Länder. Wenn man sich die Eingaben der Bürgermeister:innen und Landrät:innen an die damaligen Staatskanzleien ansieht, wird man an heute erinnert, denn auch damals kam aus den Kommunen die Forderung nach Unterstützung. Ein Problem, dass wir bis heute nicht gelöst haben, ist die Frage, was den Kommunen insoweit eigentlich zusteht? Was müssen sie selber leisten und was können die nächsten Ebenen dazu beisteuern? Ich glaube, dass das Problem in den ersten Jahrzehnten noch nicht so ausgeprägt war wie heute. Wir leben natürlich in einem ganz anderen Wohlstand als in den fünfziger und sechziger Jahren. Ein Auseinanderdriften zwischen Stadt und Land hat es schon immer gegeben, aber das Problem war während der Phase des Aufbaus nicht so präsent wie heute – mit entsprechenden politischen Folgen, die man damals noch nicht hatte.
Gebietsstrukturen im Wandel
Henneke: In den siebziger Jahren erlebten die Kommunen, deren Struktur und Gliederung seit dem 19. Jahrhundert nahezu unverändert geblieben war, eine Welle von Gebietsreformen. Welche Probleme damit bewältigt werden sollten, zeigt das folgende Zitat aus einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), in der es um die "Hochzonung" der Abfallbeseitigung – einer Aufgabe, deren Wahrnehmung sich im Laufe der Zeit enorm gewandelt hat – ging. Das Gericht verweist auf ein Spannungsverhältnis zwischen Verwaltungseffizienz und Bürgernähe sowie – positiv konnotiert – auf neue Kräfte im ländlichen Raum. Sodann wird ausgeführt, dass die Hochzonung zwar zu einer effizienteren Aufgabenwahrnehmung beitragen könne, dass auf diese Weise aber Defizite hinsichtlich der bürgerschaftlichen Selbstverwaltung entstünden. Die Notwendigkeit des modernen Sozial- und Leisstungsstaates, der ökonomischen Entwicklung und der ökologischen Vorsorge führten zu einem Entörtlichungsprozess und zu einer schleichenden Aushöhlung kommunaler Selbstverwaltung – soweit das BVerfG in seinem berühmten Rastede-Beschluss aus dem Jahr 1988. Vor diesem Hintergrund und wenn man sich in Erinnerung ruft, dass nach Stein kommunale Selbstverwaltung vom Mittun der Bevölkerung lebt und für Hardenberg der Kreis nur ein Gebiet umfassen durfte, das an einem Tag mit dem Pferd umrundet werdn kann: Wo liegen – zunächst mit Blick auf die Kommunen – die Grenzen für Gebietsreformen?
Sager: Die Grenze liegt dort, wo die Überschaubarkeit massiv leidet. Als Präsident des Deutschen Landkreistages musste ich mich häufiger mit Kreisgebietsreformen beschäftigen: mit erfolgreich vollzogenen wie in Sachsen oder auch mit geplanten, aber letztlich gescheiterten, Beispiel Thüringen. In diese Reihe gehören auch vollzogene, aber weniger gelungene Gebietsreformen wie diejenige in Mecklenburg-Vorpommern. Dort gibt es Landkreise, in dene die Kreistagsmitglieder 1,5 Stunden brauchen, um den Sitzungsort des Kreistags zu erreichen. Damit ist die Zumutbarkeit, jedenfalls für die ehrenamtlichen Kommunalpoltiker:innen, nicht mehr ausreichend beachetet. Und mit Blick auf die Hauptverwaltungsbeamt:innen stellt sich die Frage, ob diese die Besonderheiten ihres Gebietes und seiner Bevölkerung, das sie zu verwalten und zu gestalten haben, noch aus eigener Erfahrung, aus eigenem Wissen kennen.
Es gibt mithin Grenzen der räumlichen Ausdehnung, die nicht überschritten werden dürfen. Das sehe ich im Übrigen genauso für den Zusammenschluss von Sparkassen. Auch hier gibt es sehr gelungene Beispiele, aber eben auch Fusionen, die mir hinsichtlich der Flächigkeit überzogen erscheinen. Das kann auch das gute Zusammenwirken zwischen dem Vorstand der Sparkasse und den beteiligten Kommunen beeinträchtigen. Daher: Augenmaß ist erforderlich, aber auch gesunder Menschenverstand, damit es bei Größenordnungen bleibt, die handhabbar sind.
Blickt man auf die Situation in Bayern und Thüringen, könnte man sagen, dass dort einige Landkreise nach heutigen Maßstäben fast schon zu klein sind, ohne dass ich mir dazu ein abschließendes Urteil anmaßen möchte. Aber 80.000, 85.000 Einwohner:innen auf einer Fläche von 600 bis 700 km2 ist im Bundesvergleich jedenfalls weit unterdurchschnittlich. Hier sind mgw. auch die Grenzen nach unten nicht richtig gesetzt. Dies zu entscheiden ist aber Länderangelegenheit. Es ist nicht unsere Aufgabe, insoweit auf Landesregierungen und -parlamente einzuwirken. Von Schleswig-Holstein aus haben wir in den 1970er Jahren immer mit Argwohn auf Hessen und Nordrhein-Westfalen geschaut, weil dort Gebietsstrukturen geschaffen wurden, die uns im Hinblick auf Überschaubarkeit und Gestaltbarkeit nicht mehr als angemessen erschienen.
Henneke: Das wollen wir noch etwas konkretisieren. Deutschland hat etwa 84 Millionen Einwohner:innen. Auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte haben wir 400 Einheiten, das bedeutet im Schnitt rund 200.000 Einwohner:innen je Kreis bzw. kreisfreier Stadt, bei deutlichen Abweichungen im Einzelnen. Überschaubarkeit heißt Kenntnis der Fragestellungen, die man behandeln muss, betrifft mgw. aber auch die Dichte der Versorgung der Menschen vor Ort. Und eigentlich haben wir doch gerade gesagt, dass eine Sparkasse zu einem Träger gehört. Bei den Kreisgebietsreformen ist man in einigen Ländern wie Baden-Württemberg oder in den neuen Ländern dieser Vorgabe gefolgt. Auf Ebene der Sparkassen wurde diese nachvollzogen.
In diesem Zusammenhang muss auch erwähnt werden, dass die Gebietsstrukturen in Westdeutschland nach den Reformen in den 1970er Jahren – von der Fusion der Kreise Osterode und Göttingen abgesehen – völlig unverändert geblieben sind. Im Sparkassenbereich ist das merkwürdigerweise anders. Ein besonders krasses Beispiel dafür findet sich in Bayern. Dort gibt es eine Sparkasse, deren Geschäftsgebiet sich vom Bodensee bis nördlich von Augsburg über 208 km erstreckt. Übertragen auf Norddeutschland entspricht das der Entfernung von Bremen nach Kiel. Könnte man sich in Norddeutschland vorstellen, das dies das Gebiet einer Sparkasse wäre? Und jetzt liest man davon, dass diese bayerische Sparkasse noch zu klein sein soll. Anderes Beispiel: Münsterland. Braucht es in einem prosperierenden Wirtschaftsraum – Broken, Coesfeld – eine Sparkasse, die auch noch den Kreis Steinfurt mit umschließt? Entstehen würde dabei jedenfalls ein Institut, das größer wäre als die IKB, das ist eine jener Banken, deren Schieflage seinerzeit die Krise ausgelöst hat.
Heinrich Haasis hat seinerzeit gesagt, und dafür habe ich ihn stets bewundert: Wir in den Sparkassen sind zwar nicht dümmer, aber auch nicht viel schlauer als die anderen. Was also wäre passiert, wenn eine Sparkasse mit einer derart großen Bilanzsummer in Schwierigkeiten geraten wäre? Wären die Sparkassen dann noch die dezentralen Stabilitätsanker in der Fläche gewesen, die sie seinerzeit gewesen und bis heute geblieben sind? Oder wären sie genauso umgekippt? Und Sie, Herr Schleweis, haben ja auch immer davor gewarnt, dass Sparkassen nicht zu Regionalbanken mutieren dürfen.
Schleweis: Eigentlich ist ja schon alles gesagt. Trotzdem fange ich einmal so an: Das Leben ist bunt. Und auch das Sparkassenleben ist bunt. Deshalb müssen wir immer auf den Einzelfall schauen. Ich werde mich heute nicht zu einzelnen Sparkassen äußern, habe aber immer – auch schon während meiner Amtszeit – postuliert, dass ich ein Freund der kleineren Einheiten, auch der kleineren Sparkassen bin. Was "klein" allerdings genau bedeutet, lässt sich nur in der jeweils konkreten Situation beurteilen. Faktoren, die dabei berücksichtigt werden müssen, sind natürlich die Leistungsfähigkeit des Wirtschaftsraums, aber auch Fragen der klaren Abgrenzbarkeit.
Allerdings ist es nicht immer so, dass es je Sparkasse nur einen Träger gibt. Die Sparkasse Heidelberg etwa, für die ich früher tätig war, hat 33 Träger. Es gibt auch Zweckverbandssparkassen, die immer größer werden. Richtig: Ich habe immer davor gewarnt, und das mache ich nach wir vor: Wir müssen immer aufpassen, weil aus großen Sparkassen schnell kleine Regionalbanken werden. Dabei leben Sparkassen von der Nähe, von der Kenntnis ihres Wirtschaftsraums, von der Kenntnis der Menschen, die in ihrem Gebiet leben. Das darf nicht verloren gehen.
Der Druck hin zu Fusionen geht allerdings auch von der Regulatorik aus. Es gibt viele Sparkassen, die fusionieren müssen, weil sie aktuell nicht mehr die notwendigen Fachkräfte gewinnen oder weil sie derzeit den regulatorischen Druck alleine nicht mehr stemmen können. Insoweit wirken Institutionen auf Strukturen ein, nicht immer mit positivem Ergebnis.Auch darauf müssen wir unser Augenmerk richten.
Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im Blick behalten
Henneke: Das Prinzip der Überschaubarkeit, das auf den ersten Blick vielleicht etwas abstrakt klingt, hat also seinen guten Sinn in der Nähe zur Bevölkerung, in der Verpflichtung auf ein Gebiet – Sparkassen und Kreise können nicht weglaufen, sondern müssen sich um ihren Raum kümmern. Sollte dies nicht stärker propagiert werden als Erfolgsgeheimnis für die Chance auf gleichwertige Lebensverhältnisse?
Schleweis: Wir propagieren das immer. Aber wenn ich sehe, dass Sparkassen, die wirtschaftlich erfolgreich sind, aus den beschriebenen Gründen (Personalmangel, Regularotik) ihr Zusammengehen diskutieren, halte ich das für nicht zielführend.
Von Altenbockum: Das ist, so glaube ich, das derzeitige Grundproblem. Die Sparkassen sind insoweit nur ein Symptom. Herr Reuter hat vorhin die aktuellen Proteste erwähnt. Diese sind natürlich nicht nur politisch gegen die AfD und gegen rechts gerichtet, sondern man kann das auch durchaus als Schrei nach Selbstverwaltung begreifen, weil die Menschen merken, dass das, was sich bewährt hat, wegbricht. Wir alle kennen diese Klischees. Ich selber wohne auch in einem Dorf, in dem es mittlerweile nicht mehr gibt, obwohl auch wir einmal eine Sparkasen, zwei Metzger, ein Pfarramt hatten. Heute gibt es nur noch einen Bäcker und auch dieser wird vermutlich in zehn Jahren nicht mehr da sein. Und obwohl es uns gut geht, es handelt sich um ein prosperierendes Dorf, sind die Menschen wegen dieser Verluste unzufrieden.
Man kann es Überschaubarkeit nennen, ich würde es aber Identifikationsmöglichkeit nennen. Solche Anknüpfungspunkte sind dann nicht mehr da. Wir begreifen heute kommunale Selbstverwaltung gerne als institutionelles Gerüst für die Kommunen. Für den Freiherrn vom Stein ging es dagegen um Gesellschaftspolitik. Er wollte die Bevölkerung aktivieren, wollte, dass sich die Bürger:innen mit ihrer unmittelbaren Umgebung identifizieren und auf diese Weise – durchaus "kriegstechnisch" – dazu betragen, den seinerzeitigen Befreiungskampf zu gewinnen.
Dieser Gedanke ist doch heute eigentlich nicht mehr vorhanden. Die kommunale Selbstverwaltung ist vielmehr nur nich eine Institution, von der die Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass sie funktioniert. Dass sie aber selber damit gemeint sind, diesen Schritt machen viele nicht mehr mit, obwohl das Bedürfnis danach existiert, sonst hätten wir diese Massenproteste nicht.
Henneke: Diesen Punkt hätte ich nun auch ansprechen wollen und würde dazu gerne alle hier auf dem Podium einbeziehen. Herr Reuter hat in seiner Begrüßung schon die Frage der Haltung von Menschen und Institutionen gegenüber Werten angesprochen. Das ist sicher ganz wichtig. Müssen wir uns aber nicht auch die Frage vorlegen: Tragen wir als öffentliche Hand, dazu gehören für mich auch die öffentlich-rechtlich organisierten Sparkassen, zu diesem Identifikationsverlust durch Rückzug aus der Fläche mgw. selbst bei? Das ist eine ganz andere Frage als das Bekenntnis zur den Werten.
Bei der Veranstaltung der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft vor einigen Wochen in Nassau hat der Wahlforscher Karl-Rudolf Korte gesagt, dass der wichtigste Faktor mit Blick auf die Zufriedenheit der Menschen das Vorhandensein von öffentlicher Infrastruktur ist. Wenn das zutrifft, dann gilt das ebenso für die Einrichtungen von Gemeinden und Kreisen, aber eben auch der Sparkassen. Technisch mag es daher möglich sein, dass bestimmte Leistungen im Wege der Digitalisierung oder auch in mobiler Form erbraucht werden können. Aber ist es nicht so, dass die Menschen dies trotzdem als Rückzug empfinden?
Schleweis: Mit Blick auf die Entwicklung der Filialen müssen wir weg von Romantik und Anekdotik, sondern wir müssen uns die Fakten ansehen. Ich bin immer ein Freund der Filiale gewesen, trotzdem mussten auch wir bei der Sparkasse Heidelberg Filialen schließen. Das hat mir weh getan. Wenn man allerdings Filialen in Orten betreibtm die nur von drei Kunden am Tag besucht werden und die Mehrzahl der Kunden dieser Filiale die Filiale im Nachbarort besuchen, weil dort das Einkaufszentrum ist – dann kann man eine solche Filiale vielleicht noch als Sparkassenmuseum aufrechterhalten, aber man kann sie wirklich nicht mehr betreiben.
Wenn eine Sparkassenfiliale geschlossen wird, mag das das beschriebene Problem besonders deutlich machen. Ich glaube aber nicht, dass dieses Problem mit der Aufrechterhaltung von Infrastrukturen, die objektiv nicht mehr benötigt werden, gelöst werden kann. Wir haben ein gesellschaftliches Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen, auch politisch. Und natürlich müssen sich auch die Sparkassen immer fragen, wie sie ihre Leistungen erbringen, aber auch, wie sie dazu kommunizieren. Kommunikation ist wichtig und zu wenig Kommunikation – das sehen wir derzeit – schafft kein Vertrauen.
Henneke: Ich hatte ja versucht, das von Herrn von Altenbockum angesprochene Thema eher abstrakt aufzugreifen. Sind wir als öffentliche Hand – ohne jetzt eine Detaildiskussion über Filialen zu führen – nicht in der Pflicht zu überlegen, wie solche Strukturen, ggfs. auch in geänderter Form, erhalten bleiben können? Wenn jetzt die Laufzeit von Briefen von einem auf drei Tage verlängert werden soll, würden die Menschen im ländlichen Raum schon gern die Gewissheit haben, dass sie nicht zu spät zu einer Beerdigung kommen – denn normalerweise findet eine Beerdigung am dritten Tag nach dem Tod des Betroffenen statt. Über solche Dinge müssen wir noch nachdenken.
Im Landkreisbereich leben 68 Prozent der Bevölkerung. Dieser Anteil ist über die Jahrzehnte hinweg stabil geblieben. Insoweit gibt es zwar einen Sog in einzelne Großstädte, aber eben auch gegenläufige Tendenzen, so dass sich das Verhältnis von kreisfreiem und kreisangehörigem Raum die Waage hält. Von allgemeiner Landflucht kann also keine Rede sein. Und trotzdem gibt es große Gebiete in Deutschland, die von den Folgen des demografischen Wandels in besonderer Weise betroffen sind, in denen die wirtschaftliche Lage schlecht ist und aus denen gerade die Jungen wegziehen. Das ist ein Problem, dessen Auswirkungen uns bei den bevorstehenden Landtagswahlen wieder beschäftigen wird. Wie gehen wir damit um? Was machen wir, wenn in Ostdeutschland tatsächlich so gewählt wird, wie es die Prognosen vorhersagen?
Sager: Ich möchte – erstens – ein deutliches Plädoyer dafür halten, dass wir öffentliche Infrastruktur sichtbar anbieten müssen – in den Gemeinden, bei den Kreisen, bei den Sparkassen. Wir haben auch in unserer Sparkasse Veränderungen. Auch wir mussten Filialen schweren Herzens schließen. Bei uns gilt nun, dass man die nächste Filiale mit einer Autofahrt von höchstens einer Viertelstunde erreichen können muss. Ich finde das Wort "Identifikationsverlust" sehr treffend gewählt. Aber da Sie, Herr von Altenbockum, die Demonstrationen angesprochen haben, müssen wir auch die Schizophrenie der Bundesbürger:innen in den Blick nehmen.
Die Bundesbürger:innen verhalten sich widersprüchlich. Sie wollen alles haben, und zwar möglichst am liebsten alles vor Ort, aber nicht dafür tun. Die kommuale Selbstverwaltung – die Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft ist ja nicht nur der Anwalt des Föderalismus, sondern auch Anwalt der kommunalen Selbstverwaltung – leidet, weil immer weniger Bürgerinnen und Bürger sich beteiligen wollen. Auch das beruht auf unterschiedlichen Gründen, sicher auch darauf, dass es vor Ort zu wenige Gestaltungsmöglichkeiten gibtm die man sich allerdings auch erkämpfen kann, für die man eintreten kann. So sehr ich dafür bin, dass man gegen Rechtsextremismus demonstriert – Demonstrationen gegen rechts sehe ich scho anders, wir demonstrieren ja auch nicht gegen links, das ist im Moment alles etwas diffus: Es reicht nicht, dass sich die Mescnen auf die Marktplätze stellen, sie müssen sich auch engagieren, das mss wieder das Ziel sein.
Die Menschen müssen sich wieder in die Gesellschaft einbringen, sie müssen zur Wahl gehen. Bei der Oberbürgermeisterwahl in Lübeck lag die Wahlbeteiligung nur bei rund 40 Prozent, und das in einer Stadt mit rund 220.000 Einwohner:innen. Eigentlich müssten bei solchen Zahlen die Alarmglocken schrillen. Auch mit Blick auf die bevorstehende Europawahl rechne ich nicht mit einer hohen Wahlbeteiligung. Wir müssen die Gesellschaft, die Bundesbürger:innen wachrütteln und ihnen sagen: Wenn ihr Leistungen, wenn ihr Infrastrukturen, eine stabile Mitte in der Demokratie wollt, dann müsst ihr dafür auch eintreten und selbst etwas tun. Dieses Plädoyer war mir wichtig.
Von Altenbockum: Wenn Sie es dann auch noch schaffen, dass die Menschen sich für richtigen Institutionen engagieren! Bei den Demonstrant:innen, das kann man wohl unterstellen, handelt es sich doch nicht überwiegend um Menschen, die sich mit Parteien oder Parlamenten identifizieren. Auch dabei herrscht doch die Haltung eines "ihr da oben, wir hier unten" sowie die an die Regierung gerichtete Forderung vor, etwas zu unternehmen. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, aber ich glaube, dass das Engagement in einem "Rettet das Klima"-Verein heute leichter fällt als im Ortsbeirat meines Dorfes. Das liegt auch daran, dass solche Einrichtungen sofort mit dem Establishment, der politischen Kaste identifiziert werden. Es besteht die Gefahr, dass der Aufruf zu mehr Engagement mit der Illusion einhergeht, dass die Menschen sich gleichsam automatisch an der richtigen Stelle engagieren.
Zurück zu Ihrer Frage, Herr Henneke, was zu tun ist. Ich finde, wir waren in dieser Hinsicht schon einmal weiter. Ich erinnere mich, dass die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der letzten Legislaturperiode die große Überschrift des Koalitionsvertrages war. Es herrschte, auch hier in Berlin, ein großer Konsens, dass etwas passieren müsse. Dazu passte, dass der Bundespräsident Gast beim Deutschen Landkreistag war. Und auch wenn man sich über die Griffigkeit der Formel von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse streiten kann – von diesem Ansatz ist nicht mehr übrig, kein Mensch mcaht das noch zum Thema. Ich glaube, im aktuellen Koalitionsvertrag kommt die Gleichwertigkeit gar nicht mehr vor, jedenfalls nicht als großes Projekt. Jetzt bewegen wir uns sozusagen wieder auf der moralischen Ebene. Damit steht man zwar auf der guten Seite, helfen wird das mutmaßlich aber nicht.
Henneke: Richtig, die politische Betonung der Bedeutung gleichwertiger Lebensverhältnisse nahm ihren Ausgang bei den Landtagswahlen des Jahres 2016, die zum Erstarken einer bestimmten Partei führte. Damals gelangte man zu der Einsicht, es müsse etwas für die Abgehängten geschehen. Im Koalitionsvertrag des Jahres 2017 wurde dann die Einrichtung einer Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse vereinbart. Diese Kommisson war am Ende aber ein großer Flop. Das lag auch daran, dass die Beteiligten mit ganz unterschiedlichen Erwartungen in die Verhandlngen gegangen sind. Und als dann die Entschuldung der Kommunen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz sowie im Saarland zum Kernthema wurde und der Bund dies ablehnte, war der Prozess gestorben. Noch nicht einmal eine Abschlusssitzung hat es gegeben. Bei der Auftaktsitzung wurden zwar Arbeitsgruppen gebildet, die auch Berichte vorgelegt haben, aus denen aber nur der Bund – ohne die Länder – Schlussfolgerungen gezogen hat.
Das war auch Thema eines Hauptstadtgesprächs mit den Staatssekretären aus dem Bundesinnen- sowie dem Bundeslandwirtschaftsministerium. Richtig ist auch, dass sich der Bundespräsident in dieser Frage engagiert und mit seiner Aktion "Land in Sicht", mit der er bis heute durch Deutschland reist, viele Akzente gesetzt hat. Der Bundespräsident entscheidet aber nicht, und er bringt auch kein Geld mit. Deshalb bleibt festzustellen, dass heute anderer Themen im Vordergrund stehen.
Überforderte Kommunen?
Zum Ende unserer Runde möchte ich auf eine Frage eingegen, die bereits im Hinweis von Herrn Schleweis auf die überbordende Regulatorik aufschien. Denn das, was insoweit für die Sparkassen gilt, gilt in noch viel stärkerem Maße für das innerstaatliche Verhältnis von Bund, Ländern und Kommunen.
Wir haben Steuereinnahmen in Höhe von 1 Billion Euro. Deutschland ist nicht arm. Und trotzdem sagen wir, dass es vor Ort an Gestaltungsspielräumen fehlt, weshalb sich etwa Gemeinderäte in Rheinland-Pfalz auflösen. Umd im Rhein-Sieg-Kreis gibt es eine Gemeinde, die den Grundsteuerhebesatz auf 1.000 Prozent erhöhen will. Ist es nicht so, dass der Bund – mgw. durchaus mit dem Ziel, auf diese Weise für Gleichwertigkeit zu sorgen – durch seine Gesetzgebung unter Zustimmung der Länder Ansprüche schafft, die von den Kommunen zu erfüllen sind, ohne dabei Rücksicht auf ihre Leistungsfähigkeit zu nehmen? Mit André Berghegger habe ich mich kürzlich dazu ausgetauscht, wie wir die Ganztagsbetreuung bewältigen, und Ingbert Liebing wirft immer wieder die Frage auf, wie die Stadtwerke die Transformation schaffen, wenn die politischen Vorstellungen des Bundes dazu führen, dass die Stadtwerke keine Beiträge zur Haushaltssanierung in den Kommunen mehr leisten können, sondern auf Geld angewiesen sind. Ist diese vermeintliche Schaffung von Gleichwertigkeit durch Bundesleistungsgesetze nicht ein Trojanisches Pferd oder Danaer Geschenk?
Sager: Bedauerlicherweise muss man Herrn von Altenbockum recht geben, wenn er sagt, dass das Thema der gleichwertigen Lebensverhältnisse niemanden mehr interessiert und in dieser Hinsicht zu wenig geschieht. Wir erleben anhaltend, was alles in Deutschland falsch läuft. Diese überbordende Regulatorik, die die Sparkassen beklagen, begegnet den Kommunen auf anderer Ebene ebenfalls. Wir haben Festlegungen auf der Bund-Länder-Ebene, die in der Regel ein Dritter, nämlich wir als kommunale Ebene, bezahlen müssen. So wird etwa ab 2025 ein umfassender Anspruch auf Ganztagsbetreuung normiert, ohne dass die Finanzierung geklärt wäre. Das wird die kommunale Ebene erneut überfordern. Ein anderes Beispiel ist das 49-Euro-Ticket. Wenn es einen Akteur gibt, der mit der Tarifgestaltung im ÖPNV noch nie etwas zu tun hatte und auch nicht zu haben sollte, dann ist es der Bund. Jetzt regelt der Bund aber, das ein Nahverkehrsticket 49 Euro zu kosten hat. Man staunt und wundert sich. Gleichwohl stimmen die Länder zu. Sollte das Geld nicht reichen – vielleicht schon in diesem Jahr, vielleicht auch erst 2025 – steht jetzt schon fest, wer der Ausfallbürge sein wird: die Kommunen als Verkehrsträger.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass der Föderalismus in Deutschland nicht funktioniert, ist der Digitalpakt Schule. Für die Frage, mit welchen digitalen Endgeräten die Schulen ausgestattet werden, ist der Bund schlicht nicht zuständig. Trotzdem haben die Länder auch an dieser Stelle einen Deal gemacht, verkaufen aber auch sonst permanent ihre Zuständigkeiten gegen Geld.
Umgekehrt ist aber auch der Bund pharisäerhaft unterwegs. Er beklagt, dass er von den Ländern erpresst wird, verschweigt aber zugleich, dass er in den relevanten Feldern eigene politische Ziele verfolgen will.
Und die Bürger:innen haben das Gefühl, dass die Entscheidungen an zu weit entfernter Stelle fallen, dass die Dinge vor Ort nicht mehr geregelt werden können, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht ausreichend beachtet wird. Die Proteste der Landwirte, der Handwerker, des Transportgewerbes sind ebenfalls davon motiviert. Dabei geht es weniger um den Agrardiesel als vielmehr um ds Gefühl eines Ausgeliefertseins. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse steht auf dem Spiel; im Zweifel verschlechtert sich die Situation noch weiter.
Ein letztes Beispiel: die geplante Krankenhausstrukturreform. Auch in diesem Fall wird mit dem Blick auf die Situation in Berlin entschieden und die Belange der ländlichen Räume nicht ausreichend beachtet. Man muss befürchten, dass am Ende aufgrund der Setzung der Parameter zahlreiche Krankenhäuser im ländlichen Raum geschlossen werden müssen. Minister Lauterbach ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht einmal bereit, die Inhalte der Reform mit uns zu teilen, versucht aber gleichzeitig, uns gegen die Länder in Stellung zu bringen. Hier droht die nächste Gefahr.
Schleweis: Als Privatmann, für Sparkassenpolitik ist Kollege Reuter zuständig, kann ich mich den Ausführungen nur anschließen. Das Grundproblem, das teilweise schon von Brüssel ausgeht, sicher aber überall durchfrisst, ist, dass wir weggegangen sind von dem, was man als Missbrauchsaufsicht bezeichnen kann. Wir beschränken uns nicht mehr darauf, dem Markt im Sinne Ludwig Erhards bestimmte Regeln vorzugeben und Verstöße gegen diese Regeln zu sanktionieren.
Vielmehr werden nunmehr Gesetze geschaffen, mit denen versucht wird, gutes Verhalten zu erzeugen. Es geht also nicht mehr darum, schlechtes Verhalten zu sanktionieren, sondern gutes Verhalten zu erzwingen. Das führt zwangsläufig dazu, dass Ermessensspielräume abnehmen, weil man versucht – Beispiel Heizungsgesetz – die Dinge bis in die letzte Feinheit zu regeln, was letztlich scheitern muss, weil die Wirklichkeit sich dem entzieht. Das beschwert de Bürger:innen, zumal jeder versucht, mit solchen Regelungen auch seine spezifische Weltanschauung zu befördern. Deshalb haben wir derzeit ein großes gesellschaftliches und politisches Problem.
Henneke: Wenn ich Sie beide richtig verstanden habe, heißt dies, dass Gleichwertigkeit eher durch mehr Spielräume vor Ort als durch zu detaillierte Vorgaben geschaffen werden kann?
Von Altenbockum: Ein paar Lichtblicke gibt es ja. Jedenfalls in der Energiepolitik hat man gemerkt, dass eine zu große Regelungsdichte das eigentlich verfolgte Ziel konterkariert. Und im Hinblick auf die Schuldenbremse – der Elefant, der im Raum steht – lässt sich zumindest konstatieren, dass das Wort "Priorität" eine Renaissance in der Politik erfährt. Das weckt die Hoffnung, dass in Zukunft wieder stärker über die Berechtigung mancher Schwerpunktsetzungen diskutiert wird.
Was die Frage des Föderalisms angeht, so handelt es sich dabei ja um ein Problem, das uns schon sehr lange, im Grunde schon seit der Weimarer Republik begleitet. Insoweit kann man wohl nur die Hoffnung haben, dasss sich die einzelnen staatlichen Ebenen auf ihren Auftrag zurückbesinnen. Derzeit liegt, so würde ich sagen, der Fehler bei den Ländern, weil sie ihre Verantwortung gegenüber den Kommunen vernachlässigen und zu oft Begehrlichkeiten des Bundes nachgeben, denen sie nicht nachgeben müssten.
Henneke: Vielen Dank. Damit sind wir am Ende unserer Runde. Vielen Dank auch Ihnen, lieber Herr Reuter, dass Sie es übernommen haben, die heutige Veranstaltung auszurichten. Wir sind hier, ich erwähnte es schon, seit 2010 regelmäßig zu Gast. Der Sparkassen-Slogan verweist darauf, dass es um mehr als Geld geht. Ich denke, es ist uns heute Abend gelungen, zu zeigen, was damit gemeint sein kann, aber auch, dass diese Überlegungen mit der Sparkassenidee, die Sie und präsentiert haben, kompatibel ist. Dieser Dank verbindet sich mit der Hoffnung, dass der DSGV auch weiter für gelegentliche Veranstaltungen dieser Art – dabei muss ich ja nicht vorne sitzen – zur Verfügung steht. Auch an die Podiumsteilnehmer des heutigen Abends meinen herzlichen Dank für ihre aus einem breiten Erfahrungsschatz gespeisten Einordnungen.
Zum Schluss: Hat die kommunale Selbstverwaltung Zukunft?
Wenn ich es richtig verstanden habe, haben wir gleichwohl keine ganz eindeutige Lösung für das, was kommt. Dazu noch folgender Hinweis: Wir haben erlebt, welche Aufmerksamkeit die Landratswahlen in Sonnberg und im Saale-Orla-Kreis auf sich gezogen haben. Am 26.5.2024 werden nun in ganz Thüringen flächendeckend Landrats- und Bürgermeisterwahlen durchgeführt. Ob die Terminwahl eine politisch kluge Entscheidung war, weiß ich nicht. Jedenfalls wird sich wieder die volle mediale Aufmerksamkeit auf dieses Ergebnis – und auf die dann 14 Tage später parallel mit der Europawahl stattfindenden Stichwahlen – richten. Alle Welt wird zuvor auf den Osten, auf Thüringen blicken.
Vor diesem Hintergrund: Herr von Altenbockums Frage war, wer sich wann wofür engagiert. Das bedeutet doch: Sind die Themen, die wir behandeln können – und zwar selbst dann, wenn wir einen größeren Spielraum hätten – wirklich diejenigen, die die Leute begeistern und zu einem kommunalpolitischen Engagement motivieren können oder ist die Zeit dafür vorbei?
Peter Michael Huber, in seiner Zeit als Bundesverfassungsrichter auch für das Kommunalrecht zuständig, hat auf unserer letzten Jahrestagung – mir damit einen Stich ins Herz versetzend – die Bedeutung von Stein deutlich relativiert. Hardenberg, den wir nie als Selbstverwaltungsfreund gesehen haben, aber als nüchternen Schaffer von Verwaltungsstrukturen, die von ihrer Schaffung zu Beginn des 19. Jahrhunderts mindestens bis 1932, wenn nicht sogar bis in die 1970er Jahre gehalten haben, hat dagegen die Grundlage für die dezentralen Strukturen gelegt, auf die wir in der Einladung zum heutigen Abend hingewiesen haben. Und es ist ja richtig, was dort steht: Deutschland hat die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise und andere Herausforderungen wegen der starken dezentralen Strukturen vor Ort bewältigt.
Die in der Einladung ebenfalls genannten vielen Aufgaben haben aber mit Fragen kommunaler Selbstgestaltung nichts zu tun. Die Versorgung eines Busses mit Flüchtlingen ist für Landrät:innen, Bürgermeister:innen und Verwaltung eine logistische Herausforderung, ist aber nicht kommunale Selbstgestaltung. Diese fängt an, wenn es um Fragen der Integration geht. Gleichwohl helfen Kommunen und ihre Einrichtungen als dezentrale Strukturen ganz sicher dem Staat, aber die Frage der Selbstgestaltung, Selbstentfaltung, Identitätsbildung bleibt dabei doch zum Teil auf der Strecke.
Ich hoffe, es war kein allzu defensives Fazit, und wünsche mir, das wir Ihnen Anregungen für weiteres, eigenes Nachdenken geben konnten. Vielen Dank!
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke, Prof. Dr. Ulrich Reuter, Heinrich Haasis, Achim Brötel (vorne v.l.n.r.)
Prof. Dr. Horst Risse, Hans Heinrich von Knobloch, Prof. Dr. Christian Waldhoff (vorne v. l.n.r.)
Programm
18:00 Uhr | Empfang
18:15 Uhr | Begrüßung
Prof. Dr. Ulrich Reuter | Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e.V.
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke | Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.
18.30 Uhr | Podiumsdiskussion
Reinhard Sager | Landrat a.D., Präsident des Deutschen Landkreistages
Helmut Schleweis | Präsident a.D. des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes e.V.
Dr. Jasper von Altenbockum | Redakteur Innenpolitik bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Moderation
Prof. Dr. Hans-Günter Henneke | Präsident der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft e.V.,
Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Landkreistages
anschließend Ausklang mit Imbiss
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