Tagungsstätte "Gut Siggen" in Holstein
Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik.
Generationswechsel und Wortergreifungen in den späten 50er und 60er Jahren
Wissenschaftliche Leitung: Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer
Die späten 50er und 60er Jahre gelten als die zweite, "intellektuelle Staatsgründung" der Bundesrepublik, nachdem die "erste Staatsgründung" mit der Verfassungsgebung, dem wirtschaftlichen Wiederaufbau und der Westintegration erfolgreich abgeschlossen war und zunehmend an einem Legitimationsdefizit litt. Diskutiert wurde der kulturelle Umbruch der frühes Bundesrepublik im Zusammenhang mit der Rolle von zwei Generationen in den 60er Jahren: die der "68er" in Abgrenzung von ihrer Vorgängergeneration, der "45er". Die "68er", geboren in den späten 30er Jahren bis Ende der 1940er Jahre, trugen die Studentenbewegung der späten 60er Jahre; die "45er", geboren von den frühen 1920er Jahren bis in die frühen 1930er Jahre, prägten maßgebend die innere Demokratisierung und kulturelle Verwestlichung der Bundesrepublik. Galt diese Alterskohorte unter dem Stichwort "skeptische Generation" oder "Flakhelfer-Generation" lange als weitgehend unpolitisch und lediglich vom wirtschaftlichen Aufbauwillen getragen, so haben neuere Studien hervorgehoben, dass diese Generation zugleich eine umfassende Traditionskritik betrieb und alles andere unpolitisch war. Seit den späten 50er Jahren hatten sich die intellektuellen Wortführer und aufstrebenden jüngeren Politiker hauptsächlich aus dieser Generation rekrutiert. Es waren die zornigen und kritischen Angehörigen der Generation der 40jährigen, die mit ihren Büchern, Zeitschriftenpublikationen und Medienauftritten seit den späten 1950er Jahren weitgehend die Themen und Stichworte vorgegeben haben, die dann mit der 68er Bewegung ein großes Publikum gefunden haben.
Neben Schriftstellern wie Heinrich Böll, Günther Grass und Martin Walser Soziologen wie Theodor Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas und Ralf Dahrendorf. Aber auch bildende Künstler, wie die Vertreter des europäischen Informel und des amerikanischen abstrakten Expressionismus von E. Nay, J. Pollok bis J. Beuys, die nach dem Wiederentdecken der verfemten klassischen Moderne auf der ersten documenta (1955) der Avantgarde der 50er Jahre auf der zweiten documenta (1959) zum Durchbruch verhalfen.
Die Annahme des Generationswechsels bzw. – im Falle der 68er – eines Generationskonflikts wird als einer der auslösenden Faktoren für eine intellektuelle Wendezeit und Aufbruchsituation verstanden, die ihren Höhepunkt mit der Protestbewegung bzw. Kulturrevolution von 1968 und mit dem politischen Machtwechsel von 1969 erlebte; ihre Inkubationsphase begann in den späten 1950er Jahren. Die intellectual history der frühen Bundesrepublik wird in einem engen Zusammenhang mit der Abfolge der politisch-kulturellen Generationen gesehen. Der kulturelle Wandel gilt als Durchbruch zur "Selbstanerkennung der Bundesrepublik als westliche Demokratie". Die 45er werden als publizistische und politische Streiter für Reform und Kritik, für eine bewusste Westorientierung, aber zuweilen auch als Vordenker eines "dritten Weges", eines demokratischen oder humanistischen Sozialismus gesehen. Mit ihnen wird zunehmend die NS-Verstrickung der deutschen Gesellschaft thematisiert und damit das Ende des "kollektiven Beschweigens" der NS-Vergangenheit eingeläutet.
Zugleich entsteht seitdem eine "Kultur des Verdachts", die nach Meinung von einigen Kritikern zu einer politisch-kulturellen Belastung und (vorübergehenden) Delegitimierung der Bundesrepublik führte. Diese Kritik ist zugleich Teil einer heftigen öffentlichen Debatte um Reform und Amerikanisierung, die für manche Beobachter einen "romantischen Rückfall" in kulturpessimistische und zivilisationskritische Positionen der deutschen Zwischenkriegszeit nun im neomarxistischen Gewande und eine Verweigerung gegenüber der industriegesellschaftlichen Moderne bedeute, auf jeden Fall immer auch eine Debatte über die Rolle der Intelektuellen und ihre Politisierung beinhaltete und damit das politisch-kulturelle Klima prägte. Die Heftigkeit dieser Kontroversen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit die Erfahrung und Anerkennung eines politisch-kulturellen Pluralismus einherging und damit auch die Liberalisierung der politischen Kultur der Bundesrepublik gefördert wurde.
Angesichts der Vielfalt der alten und neuen Muster der Selbstdeutung der deutschen Gesellschaft, die sich in dieser Umbruchphase nebeneinander, miteinander und gegeneinander entfalteten, wäre es unzureichend, die Diskurse dieser Zeit in eine starre, rechts-links-Dichotomie zu pressen und sie auch nur als Theorien über die deutsche Vergangenheit zu definieren; auch bleibt dieser Diskurs nicht nur der Sache wissenschaftlicher Institutionen und intellektueller Zirkel, sondern die Themen des Auf- und Umbruchs finden bald Eingang in größere und wirkungsmächtigere Foren der intellektuellen Auseinandersetzung, in die Nachtstudios von Rundfunkanstalten, die Programme kirchlicher Akademien und anderer Bildungseinrichtungen. Dieser Diffusionsprozess ist mitentscheidend dafür, dass der Prozess der Moderne unumkehrbar wird und eine lange Tradition des Kulturpessimismus zum Abschluss bringt bzw. diese zu eine Gestalt- und Argumentationswandel veranlasst.
Die Vordenker und Akteure dieses intellektuellen Aufbruchs, ihre Themen und Foren, sind in der zeitgeschichtlichen Forschung bislang auf einige Namen und Institutionen beschränkt geblieben: auf die Sozialwissenschaften und vor allem die Frankfurter Schule, auf die Schriftsteller der Gruppe 47, auf die Akademien und Rundfunkanstalten. Das sehr viel breitere Spektrum, die Interdependenz und Gleichzeitigkeit der verschiedenen Themenfelder und Debatten, in denen sich der Aufbruch manifestierte; die Erfahrungen und Ansichten einer jungen intellektuellen Generation, die diese Diskurse prägte, bleiben ungeklärt oder auf die Erinnerung der Mitlebenden beschränkt. Die 40. Wiederkehr des zum Mythos gewordenen Jahres 1968, das in vieler Hinsicht nur die "Hochwassermarke" einer sehr viel breiteren und langfristigeren Bewegung und Umbruchsituation bildete, bot den Anlass, den Blick auf die Vorlauf- und Inkubationsphase des intellektuellen Aufbruchs seit den späten 1950er Jahren zu richten und den Diffusions- wie den Transformationsprozess der Denkanstösse der 45er in der gesamten kulturellen Breite zu thematisieren.
Programm:
Donnerstag, 25. September 2008
15.30 Uhr | Begrüßung
Karl Teppe (Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft)
Einführung
Hans-Ulrich Thamer (Münster)
Sektion I: Kunst, Journalismus, Kabarett
Moderation:
Hans-Ulrich Thamer
15.45 Uhr
Christian Spies (Basel)
Letzte und erste Bilder. Zäsuren der Malerei in den 1950er Jahren
16.30 Uhr Kaffeepause
16.45 Uhr
Maria Daldrup (Gießen)
"Vergangenheitsbewältigung" und Demokratisierungsansätze im Deutschen Journalisten-Verband von den
1950er bis 1980er Jahren
17.30 Uhr
Detelf Briesen (Siegen)
Das politische Kabarett in der Bundesrepublik in den 50er und 60er Jahren. Lost Generation, kritische
Öffentlichkeit und Medienrevolution
18.30 Uhr Abendessen
20.15 Uhr
Film "Provokation Lebenselement der Gesellschaft – Zu Kunst und Antikunst" (mit Max Bense, Joseph Beuys,
Max Bill, Arnold Gehlen, Wieland Schmied; WDR 1970)
Freitag, 26. September 2008
Sektion II: Medien, Öffentlichkeit, Parteien
Moderation:
Jürgen Reulecke (Gießen)
09.30 Uhr
Christoph Hilgert (Gießen)
Die 68er als "Generation Jugendfunk"? Politische Aufklärung von Jugendlichen im Hörfunk der 1950er Jahre
10.15 Uhr
Marcus M. Payk (Potsdam)
"... die Herren fügen sich nicht; sie sind schwierig." Intellektuelle Konflikte und intergenerationelle
Konstellationswechsel bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bis 1970
11.00 Uhr Kaffeepause
11.15 Uhr
Peter Hoeres (Gießen)
Abwehr und Aneignung der Demoskopie im intellektuellen Diskurs der frühen Bundesrepublik
12.00 Uhr
Daniel Schmidt (Münster)
Herausforderung 1968 – Generationeller Wandel und politisch-kultureller Umbruch in der CDU 1967-1982
13.00 Uhr Mittagessen
Sektion III: Literatur und Publizistik
Moderation:
Karl Teppe (Münster)
14.30 Uhr
Dominik Geppert (Berlin)
Die Gruppe 47 und "1968"
15.15 Uhr Kaffeepause
15.45 Uhr
Anne Fuchs (Dublin)
Die Befreiung aus der Provinz:kulturelle Umbruchtopoi in der Autobiografie Ludwig Harigs
16.30 Uhr
Alexander Gallus (Rostock)
Die Erben der "Weltbühne": Weimarer Linksintellektuelle und die frühe Bundesrepublik
17.15 Uhr Kaffeepause
17.30 Uhr
Film "Zeitzeugen des Jahrhunderts. Helmut Schlesky im Gespräch mit Ludolf Herrmann" (ZDF 1983)
18.30 Uhr Abendessen
Samstag, 27. September 2008
Sektion IV: Wissenschaften, Universitäten, Konfessionen
Moderation:
Franz-Werner Kersting (Münster)
09.30 Uhr
Daniela Münkel (Hannover)
Die Reform der bundesdeutschen Universitäten – intellektuelle Kontroversen um ein intergenerationelles Projekt
10.15 Uhr
Tobias Freimüller (Jena)
Sozialpsychologie als Selbstaufklärung. Alexander Mitscherlich und die deutsche Öffentlichkeit in den 50er und 60 Jahren
11.00 Uhr Kaffeepause
11.15 Uhr
Klaus Große Kracht (Potsdam)
Von der "Rechristianisierung der Gesellschaft" zur "sauberen Bewältigung der Realität". Wandlungen im
Sendungsbewusstsein katholischer Intellektueller in der frühen Bundesrepublik (1945-1960)
12.00 Uhr
Pascal Eitler (Berlin)
"Auferstehung" als "Aufstand". Politische Theologie und Bewaffneter Widerstand um "1968"
13.00 Uhr Mittagessen
Zusammenfassung liegt vor!
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